Die Welt aus den Fugen
Offenbarung zahlloser Geheimberichte der amerikanischen Botschafter in aller Welt ist bereits mit dem Ende der Diplomatie gleichgesetzt worden. Andere Kommentare verweisen darauf, daà die Indiskretionen keine neuen Erkenntnisse beinhalten. Was bisher publiziert wurde â auch die Bewertung ausländischer Staatsmänner durch die akkreditierten US-Ambassadoren â, klingt weit harmloser als die Urteile, die etwa an deutschen Stammtischen gefällt werden.
Die wirklich brisante Materie aber ist offenbar noch gar nicht an die Oberfläche gedrungen. Und man stellt sich die Frage, was die ungeheure Apparatur einer GroÃmacht alles zutage fördern könnte, wenn es schon der kleinen Mannschaft von Julian Assange gelang, solche Turbulenzen auszulösen.
Bislang ragt immerhin eine brisante Information aus der Ârelativen Bedeutungslosigkeit heraus. Laut WikiLeaks hat ÂKönig Abdullah von Saudi-Arabien seine amerikanischen VerbünÂdeten aufgefordert, endlich zum vernichtenden Militäreinsatz gegen den Iran auszuholen. Teheran hat auf diese ÃuÃerung mit Gelassenheit reagiert: König Abdullah sei als besonnener Politiker und frommer Muslim bekannt. Es könne sich also bei dieser Aufforderung nur um ein infames Komplott, eine gezielte Irreführung der amerikanischen Propaganda handeln.
In Wirklichkeit befinden wir uns in einer frühen Phase des Cyber-War. Die Kontrahenten von morgen versuchen, in die intimsten Bereiche ihrer möglichen Gegner einzudringen und deren Interventionskapazität zu lähmen. Es heiÃt, RuÃland habe bereits ein derartiges Experiment unternommen, als es durch elektronische Sabotage das gesamte Kommunikationssystem Estlands kurzzeitig ausschaltete.
Eine gewichtigere Erprobung dieser futuristisch anmutenden Form virtueller Kriegführung wurde offenbar gegenüber der nuklearen Rüstungsindustrie Irans durchgeführt, indem ein Computerwurm namens Stuxnet in die dortigen Konstruktionsnetze eingeschleust wurde, der die Vollendung der iranischen Atombombe entscheidend verzögerte.
Der Schaden, den WikiLeaks der Supermacht USA zugefügt hat, besitzt eine fatale Dimension. Bislang ist man davon ausgegangen, daà den Amerikanern durch die Anhäufung von sechzehn Nachrichtendiensten die wirkungsvollste Abschottung ihrer strategischen und diplomatischen Planung gelingt. Plötzlich sieht sich nicht nur das State Department, sondern auch das Pentagon in die Rolle des Zauberlehrlings versetzt. Und niemand ist zur Stelle, der dem Spuk ein Ende setzt.
Man kann sich vorstellen, welche Anstrengungen in den Laboratorien der Vereinigten Staaten von Amerika und der chinesischen Volksrepublik unternommen werden, um das System des Gegners zu infiltrieren und mit Hilfe sogenannter Trojaner dessen Kommandostrukturen zu lähmen. Die Weihnachtspräsente, die die heranwachsende Generation mit allen Manipulationen und Fortschritten der Computerindustrie vertraut machen, kündigen unterschwellig an, daà die militärische Auseinandersetzung der Zukunft völlig anderen Gesetzen folgen soll als die klassische Strategie. Der Einsatz von unbemannten Drohnen, die im pakistanischen Grenzgebiet die Führungskräfte der Taleban dezimieren, geben einen Hinweis darauf, wie die Konflikte von morgen manipuliert, eventuell aber auch verhindert werden können.
DAS ENDE DER WEISSEN
WELTHERRSCHAFT 1
Vor achtzig Jahren hatte sich die Weltherrschaft des »WeiÃen Mannes« so konsequent ausgeweitet, daà praktisch der ganze Globus als exklusiver Kolonialbesitz der europäischen Mächte erschien. Die neu entdeckten Kontinente wurden von europäischen Migrationsströmen besiedelt.
Heute ist dieser stolze Imperialanspruch auf ein paar Fetzen, ein paar Konfetti, wie die Franzosen sagen, geschrumpft. Die zahllosen amerikanischen Militärstützpunkte unterliegen zusehends einem Overstretch, einer fatalen Ãberanspannung der bisherigen Weltmacht USA.
Nostalgie und Höhenflug
Vor einem halben Jahrtausend waren die Karavellen und Galeonen Portugals und Spaniens ausgelaufen, um den Seeweg nach Indien und zu den Goldminen von Zipango zu entdecken. Vasco da Gama hatte die Wunderwelt des Orients mit seiner Umschiffung Afrikas erreicht. Kolumbus steuerte die Karibik und Mittelamerika an. Die spanischen Conquistadoren Cortes und Pizarro unterwarfen die Reiche der Azteken und der Inkas der Autorität der katholischen
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