Die Welt aus den Fugen
der Ende des Jahres seine Präsidentschaft niederlegen muÃ, weil die Verfassung nur eine Wiederwahl zu diesem höchsten Amt erlaubt, den Ruf eines rabiaten Sozialisten. Doch er brachte es fertig, bei den in bitterer Armut lebenden Massen, aber auch in den Führungsetagen der Finanzinstitute und Konzerne Ansehen zu erwerben. Lula und seine »Companeros« erkannten früh, daà Brasilien nur durch die Zusammenarbeit mit der Oberschicht den immensen Naturreichtum des Landes aktivieren und Vertrauen bei ausländischen Investoren finden kann. So ging die gewaltige Steigerung des Bruttosozialproduktes mit einer Verringerung der Armut um vierzig Prozent und einer Beendigung der bislang chronischen Inflation einher.
Eine zusätzliche Chance bietet sich dem Schwellenland Brasilien, seit vor seiner Küste gewaltige Erdölvorkommen geortet wurden. Auf einer soliden ökologischen Basis ruhend, hat Brasilien als beherrschender Faktor die bislang erdrückende Hegemonie der USA in Lateinamerika weitgehend ausgeschaltet. Bezeichnend dafür ist eine Episode anläÃlich einer internationalen Zusammenkunft, bei der alle anwesenden Regierungschefs sich von ihren Sitzen erhoben, als der amerikanische Präsident den Saal betrat. Nur Lula blieb sitzen: »Bei mir ist auch keiner aufgestanden, als ich reinkam.« Der neue brasilianische Koloà sucht nicht die Konfrontation mit WaÂshington, aber er will auf Augenhöhe verhandeln.
Vieles ist in Bewegung geraten in Lateinamerika. Aufgrund der relativ harmonischen Rassenvermischung, die in Zukunft auch die übrigen Kontinente nicht verschonen dürfte, spricht man in Brasilien bereits von einer »raza cosmica«. Die ethnische Vermengung könnte das zukünftige Schicksal der Menschheit bestimmen, zumal die Demographen errechnet haben, daà heute nur noch vier Prozent der Weltbevölkerung rein europäischer Abstammung sind.
Am krassesten verändert hat sich das Verhältnis zwischen weià und farbig in der Andenrepublik Bolivien, wo mit Evo Morales zum ersten Mal in der Geschichte dieses Staates ein Indianer zum Staatschef gewählt wurde. Morales hat verfügt, daà das Land zu seinen präkolumbianischen Wurzeln zurückfinden solle. Schon werden die Idiome der Eingeborenen zur offiziellen Amtssprache neben dem Spanischen erhoben. Die Gebirgsstämme, die einst dem Inkareich angehörten und durch die spanische Kolonisation ausgebeutet wurden, haben ihren eigenen Stolz und ihr ethnisches SelbstbewuÃtsein zurückgewonnen.
Mag sein, daà Morales eines Tages ermordet wird. Er lebt eben in einer Republik, die seit ihrer Gründung um 1820 von 190 mehr oder weniger gewalttätigen Regimewechseln heimgesucht worden ist. Aber die gewerkschaftlich organisierte und bewaffnete Bevölkerung des Hochlands wird es nicht mehr dulden, daà jemals ein Nachkomme von europäischen Eroberern wieder die Führung an sich reiÃt. In Venezuela mobilisiert zur Zeit Hugo Chávez die buntgemischte Wählerschaft in seiner Republik. In Mexiko wiederum hat der Aufstand der Drogenkartelle Formen angenommen, die eines Tages in den revolutionären Elan eines Zapata einmünden und die USA vor existentielle Probleme stellen könnten.
In Deutschland geistert Terrorangst
29. 11. 2010
Eine Serie von Drohungen von Bombenanschlägen ist in den letzten Tagen bei vielen westeuropäischen Sicherheitsbehörden eingegangen. Bislang war Deutschland vor terroristischen Aktivitäten relativ verschont geblieben. Das zuständige Ministerium in Berlin trug zunächst eine lobenswerte Gelassenheit zur Schau. Mit einem Schlag aber änderte sich das, und der deutsche Innenminister Thomas de Maizière wandte sich mit alarmierenden Warnungen an die Bevölkerung. Er steht vor einem Dilemma: Entweder beherzigt er den Grundsatz, wonach Ruhe die erste Bürgerpflicht ist, was ihm im Falle eines tatsächlichen Terroranschlages â sei es unter der Glaskuppel des Reichstages oder im Menschengewimmel eines Weihnachtsmarktes â wütende Kritik einbrächte. Oder er mobilisiert sämtliche verfügbaren Polizeikräfte, läÃt schwerbewaffnete Streifen patrouillieren und verschärft die Personenkontrollen. Damit könnte er sich dem Vorwurf des Panikmachers aussetzen.
Für die Deutschen bleibt die Frage offen, welche kriminelle Bande Interesse daran hätte, durch BlutvergieÃen Chaos und
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