Die Welt aus den Fugen
abgeschafft wurde, ist eine Vertraulichkeit unter WeiÃen, Schwarzen, Mulatten und Mestizen aufgekommen, wie sie sich in den angelsächsisch-protestantischen USA nie entwickeln konnte. Wer darauf verweist, daà hier die führenden Positionen in Staat und Wirtschaft noch überwiegend durch Staatsbürger europäischer Herkunft besetzt sind, sollte nach WaÂshington blicken, wo vor fünfzig Jahren die Vorstellung, ein afroamerikanischer Präsident würde im WeiÃen Haus Einzug halten, als groteske Absurdität empfunden wurde. Eindeutig ist Brasilien zur Führungsmacht auf dem südamerikanischen Subkontinent geworden, verhandelt mit den USA von gleich zu gleich.
Der jetzige Präsident Lula da Silva wird von den Massen der Brasilianer als Volksheld verehrt. Als einfacher Metallarbeiter ist er als Kind einer verleugneten Befreiungstheologie an die Spitze der Macht gerückt und hat für bescheidenen sozialen Ausgleich gearbeitet. Seine auÃenpolitische Unabhängigkeit von Washington bewies er durch einen Vermittlungsversuch im Nuklearkonflikt des Westens mit der Islamischen Republik Iran. Das Treffen Lula da Silvas und des türkischen Regierungschefs Erdogan mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinejad sollte zu denken geben.
In BrasÃlia und nicht in Washington wird entschieden werden, ob die sozialrevolutionären Regime von Venezuela und Bolivien überdauern werden. Und niemand hat in Lateinamerika den Auftritt des venezolanischen Diktators Hugo Chávez vor der UNO vergessen, der auf der Tribüne, wo vor ihm George W. Bush gesprochen hatte, das Kreuzzeichen machte und behauptete, es röche nach teuflischem Schwefel.
Indianische Wiedergeburt
Wie weit die Auflehnung der Indianer und Mestizen sowie die Rückbesinnung auf das präkolumbianische Kulturerbe gehen kann, erweist sich am deutlichsten in Bolivien. Mit Evo Morales ist zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes ein reiner Indianer vom Volk der Aymara an die Macht gekommen. Wenn er seine indianische Leibgarde abschreitet, kommen Erinnerungen auf an die groÃen Eingeborenenaufstände des 18. Jahrhunderts unter Führung von Túpac Amaru in Peru und Túpac Katari in Bolivien.
Jahrhundertelang war die Urbevölkerung Boliviens, ob sie nun den Stämmen der Aymara, Ketchua oder Guaranà angehören, von der spanischen Kolonialverwaltung zur armseligen sklavischen Fronarbeit der Gold- und Silberminen verurteilt. Wie stark Spanien dieses Andenland geprägt hat, das von dem Bruder des Conquistadoren Pizarro unterworfen wurde, offenbart sich in der früheren Hauptstadt Sucre, die mit ihrer Plaza Mayor und den schneeweià getünchten Häusern auf Andalusien und Sevilla verweist. In Sucre scheint sich auch die katholische Tradition stärker erhalten zu haben als anderswo. Am Sonntag füllt sich die Kathedrale mit Gläubigen unterschiedlicher Hautfarbe.
In der ehemaligen Jesuitenkirche von Sucre wurde im Jahr 1825 die Unabhängigkeit der Republik Bolivien proklamiert und gleichzeitig die endgültige Loslösung von der spanischen Kolonialherrschaft vollzogen. Aber diese Eigenstaatlichkeit hat Bolivien kein Glück gebracht, wie schon Simón BolÃvar sagte. Seitdem haben 190 Regimewechsel stattgefunden, und die vollzogen sich meist gewalttätig und blutig. Und so erwarten auch einige und erhoffen es, daà der jetzige Präsident Evo Morales ein ähnliches Schicksal erleiden wird. Aber Morales sitzt fester im Sattel, als manche glauben, er stützt sich auf die indianische Mehrheit des Landes, ja er hat sogar eine Art indianische Kulturrevolution eingeleitet. Er möchte zu den Bräuchen, zu den Sitten, zu den Sprachen und sogar zu den schamanistisch anmutenden Religionen der Ahnen, der Indigenas, der Eingeborenen, wie man hier ohne Komplexe sagt, zurückkehren. Ob das gelingen kann, oder gar über die Grenzen Boliviens ausgreifen kann, das ist äuÃerst ungewiÃ. Aber eines ist sicher: Niemals wieder wird es einen Präsidenten rein europäischer Abstammung in diesem Land geben.
In der neuen Hauptstadt La Paz hat sich die Eingeborenen-politik des Evo Morales, hat sich der Stolz auf die eigene IndioÂrasse durchgesetzt. Vor dem Regierungspalast wird stets der Laternenpfahl gezeigt, an dem in den 50er Jahren der Präsident Gualberto Villarroel von tobenden indianischen Mineros gehängt wurde. In La Paz ist man stolz als Indigena, als
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