Die Welt aus den Fugen
ständigen Bombardierungen der japanischen Flieger hatte die Bevölkerung tiefe Tunnel in die Felsen getrieben.
Zur Zeit der Kulturrevolution tobten sich in Chongqing die Rotgardisten besonders hemmungslos aus, zerstörten sogar industrielle Anlagen, so daà die Arbeiter sich schlieÃlich in Werkschutzeinheiten formierten. Am Ende griff auf höchsten Befehl die Volksbefreiungsarmee mit schweren Waffen ein, um die Ordnung wiederherzustellen.
Das erträumte China des Jahres 2000 wurde von den kleinen Leuten in einem Fotostudio vorweggenommen. Hier versammelte man sich zu einer Familien- oder Hochzeitsaufnahme vor einer Attrappenkulisse einer Wohnung voll mit Nippes.
Als Hintergrund dieser Zukunftsillusion diente damals eine erträumte Skyline mit Hochhäusern. Niemand hätte 1980 geahnt, auf welch phantastische Weise die moderne Stadt Chongqing in den Himmel wachsen würde. Eine kolossale, hypermoderne Stadt ist entstanden. Ihre Häuserschluchten öffnen sich auf schwindelerregende Abgründe. Die glänzenden Fassaden legen Zeugnis davon ab, daà die Umwandlung Chinas nicht, wie manche behaupten, auf die Küstenzonen beschränkt bleibt.
Der Umkreis von Chongqing wurde zu einem industriellen Städtekomplex zusammengefaÃt, der dreiÃig Millionen Menschen zählt. Ein paar winzige Relikte der alten Elendsviertel warten noch auf den AbriÃ, und die Bewohner dieser Ruinen klammern sich mit seltsamer Nostalgie an die Ãberreste ihrer einstigen Misere. Andererseits birst diese Megapolis vor Dynamik. Der jugendliche Reigen, der sich hier formiert, ist mehr von Disneyland inspiriert als von maoistischer Strenge.
Im Jahr 1980 drängten sich ärmliche, in blaue Einheitstracht gekleidete Massen in dem extrem bescheidenen Warenhaus, wo Deng, gestützt auf den Provinzgouverneur Zhao Ziyang, den ersten Versuch eines freien Handels unternahm. Das Angebot war damals noch äuÃerst kläglich. Heute hingegen ist alles im Ãberfluà vorhanden, und in den zahllosen Geschäften treffen die nach amerikanischem Modell gekleideten Chinesen ihre Wahl. Die blaue Einheitskluft ist verschwunden, und die meisten Mädchen tragen extrem knappe Shorts oder Miniröcke.
Vergeblich haben wir nach der gigantischen Mao-Statue gesucht, vor der 1980 die Studenten der Universität Chongqing ihre huldigenden Gymnastikübungen vollführten. Die Universität ist heute nicht mehr wiederzuerkennen. Das Ganze gleicht eher einem amerikanischen Campus. Von Mao ist keine Rede mehr. Das reichliche Essen, das in der Mensa serviert wird, ist als Zeichen des Erfolgs der landwirtschaftlichen Reformen zu werten, die seitdem unternommen wurden. Das bringt zu BewuÃtsein, daà achtzig Prozent der Bevölkerung noch auf dem Land lebt und das fruchtbare Szetchuan stets als der Reisnapf Chinas galt. In den ländlichen Gebieten ist die Armut längst nicht überwunden.
Wenn die Nacht sich über Chongqing senkt, lebt die stickige heiÃe Stadt auf. Zahllose Bars und Discos deuten auf eine Lockerung der Sitten seit der Prüderie der Mao-Jahre hin. An der Universität werden den Studenten Kondome umsonst verteilt. Die gleiÃenden Lichter der Riesenmetropole sind ein Symbol für die hemmungslose Sucht nach Gewinn und Bereicherung, die weite Teile der Bevölkerung erfaÃt hat. Zwar wälzen sich in den exklusiven Kaufhäusern mit den teuersten ausländischen Luxusangeboten keine Käuferscharen. Aber die Eisbahn, die dort im obersten Stockwerk errichtet wurde, gibt Zeugnis von einem Höhenrausch, der nachdenklich stimmt.
Die vierte Modernisierung, die Deng 1980 auf den Weg bringen wollte, war die Modernisierung der Streitkräfte. In ihren grasgrünen Uniformen waren die einfachen Soldaten der Volksbefreiungsarmee von den Offizieren nicht zu unterscheiden. Es herrschte bei ihnen eine strikte ideologische Disziplin nach den Vorgaben des GroÃen Steuermannes. Als im Jahr 1979 jedoch die Divisionen der Volksbefreiungsarmee an der Südgrenze antraten, um dem vietnamesischen Nachbarn, der gerade Kambodscha erobert hatte, eine Lektion zu erteilen, erwies sich das strategische Konzept, mit dem Mao über Chiang Kai-shek gesiegt und die Amerikaner in Korea zurückgeworfen hatte, als ungeeignet, um die Erben Ho Chi Minhs in die Knie zu zwingen. Bei ihrem Rückzug aus dem Grenzstreifen Nordvietnams, den sie erobert hatten, täuschten die gealterten Generale
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