Die Welt der Kelten
für deren Bestattung man um das Jahr 500 vor Chr. nahe des Mont Lassois an der Seine einen mächtigen Grabhügel
aufschüttete. Darin bahrte man inmitten einer hölzernen Grabkammer die zweifelsohne adligeTote auf – inmitten von Beigaben,
die teilweise ihresgleichen suchen. Außer einem vierrädrigenWagen, Trinkgeschirr, Fibeln und Schmuckringen sowie diversen
Gefäßen, die vom Mittelmeer kamen, brachte man ein bronzenes Mischgefäß in das Grab. Es stammte von den Griechen, war 1,6
Meter hoch,wog über 200 Kilogramm und hatte ein Fassungsvermögen von 1100 Litern – heute ist es das größte antike Metallgefäß,
das bisher gefunden wurde. Ein derartiges Prunkstück kam nur für eine Person in Frage, die für die Stammesgemeinschaft von
herausragender Bedeutung gewesen war und noch imTod höchsteVerehrung genoss. Mutmaßlich wurde der Toten am Fuße des Fürstensitzes
auf dem Mont Lassois eine lebensgroße Skulptur errichtet, die sie sitzend mit einem langen Gewand und einemTorques-Halsring
zeigte.Deshalb wurde viel über den Rang der edlen Dame vonVix gerätselt: Als Fürstin darf sie sicher bezeichnet werden, möglicherweise |133| war sie eine Priesterin oder eine frühe mächtige Druidin. Gewiss ist allein ihre herausragende Stellung.
Diese nahm auch jene reiche Fürstin ein, die etwa 180 Jahre später in Waldalgesheim bei Bingen auf den Hunsrückhöhen beigesetzt
wurde.Wie der Dame von der Seine errichtete man ihr einen mächtigen Grabhügel, der eine Fülle kostbarer Beigaben enthielt
– Importgut aus dem Süden und von keltischen Meisterhandwerkern gefertigt. Sie schufen mit ihren ornamentalenVerzierungen
und Figuren sogar einen neuen Stil, der als so genannter La Tène-Stil typisch für die keltische Kunst wurde. Die Keltin vom
Mittelrhein verfügte über Reichtum und Macht – und über weit reichende Beziehungen ins Mittelmeergebiet, in die Champagne
und die Ardennen.
Die Stammesherrscherinnen von Vix und Waldalgesheim stehen nicht allein, sondern hatten viele andere mächtige Frauen zur Seite,
wie etliche Prachtgräber von Rhein und Saar, aus Lothringen und anderen Gebieten bezeugen. Dass Keltinnen als Fürstinnen und
Königinnen auftreten und ihrenVätern und Ehemännern auf dem Thron folgen konnten, zeigen neben den archäologischen Funden
die römischen Geschichtsschreiber wieTacitus.Er schildert das Schicksal der britannischen Ikenerkönigin Boudicca, die als
Stammesherrin den Römern erbitterten Widerstand leistete. Dementsprechend hielt sich in den irischen Heldenerzählungen die
Tradition mächtiger Königinnen und furchtloser Kriegerinnen.
Frauen spielten in der Nachfolge der Fürstin vonVix eine bedeutende Rolle als Priesterinnen und Seherinnen, Magierinnen und
Druidinnen.Dies bestätigen Nachrichten |134| antiker Gewährsmänner über religiöse Bräuche in Gallien. Auf Poseidonios geht eine Schilderung zurück, nach der gegenüber
der Loire-Mündung eine kleine Insel liege, die allein von Frauen bewohnt sei.Sie seien von Dionysos besessen.Kein Mann dürfe
die Insel betreten, aber die Frauen segelten zum Festland und hätten dort Beziehungen zu den Männern. Einmal im Jahr werde
das Tempeldach abgetragen und am selbenTag wieder neu gedeckt. Jede Frau müsse Baumaterial herbeibringen. Diejenige, die es
fallen lasse, werde von den anderen in Stücke gerissen. Dann trügen sie die Leichenteile so lange um den Tempel, bis ihr Wahnsinn
nachlasse. Diesen Worten zufolge opferten die Priesterinnen eine der ihren, um einen Fruchtbarkeitsgott zu verehren.
Dieses Zeugnis steht nicht allein;noch zur Zeit der römischen Herrschaft hörte man von einer anderen Insel, die als berühmte
gallische Orakelstätte galt. Dort sollten neun heilige Jungfrauen mit ihren Zauberliedern Wind und Meer in Bewegung versetzen,
zudem konnten sie sich in jedes beliebigeTier verwandeln und Prophezeiungen sprechen. In derartigen antiken Berichten lag
eine Quelle für dieVorstellung der mythischen Insel Avalon, die in den Sagen um König Arthur und den Zauberer Merlin eine
wichtige Rolle spielte.
Trotz dieser zahlreichen Zeugnisse von Frauenmacht lebten die Keltinnen und Kelten in keiner matriarchalischen Gesellschaft.
Aber nach Berichten und Funden blieb doch eine Fülle von Einflüssen, die durchaus weibliche Macht ermöglichte.Die Keltinnen
spielten viele herausragende Rollen – und sei es als Göttinnen und Feen der Sagenwelt der Britischen Inseln.
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