Die Welt ohne uns
später wurde Richard Thompson klar, dass die Proben in einem klimatisierten Plymouther Lagerhaus eine Zeitkapsel, ein Protokoll der wachsenden Wasserverschmutzung darstellten. Zwei Routen vor der nordschottischen Küste wählte er aus, auf denen Hardy regelmäßig Proben hatte entnehmen lassen: die eine nach Island, die andere zu den Shetland-Inseln. Sein Team beugte sich über Seidenrollen, die nach chemischen Konservierungsmitteln stanken, und hielt nach altem Kunststoff Ausschau. Es gab keinen Grund, die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg zu untersuchen, weil es bis dahin kaum Kunststoffe gegeben hatte, ausgenommen das Bakelit, das für Telefone und Radios verwendet wurde, Geräte, die so haltbar waren, dass sie noch nicht in die Abfallkette gelangt waren. Wegwerfverpackungen aus Plastik waren noch nicht erfunden worden.
Doch mit Beginn der sechziger Jahre stießen die Forscher auf eine wachsende Zahl von Teilchen aus immer vielfältigeren Kunststoffarten. In den neunziger Jahren enthielten die Proben dreimal so viel Acryl, Polyester und andere synthetische Polymere wie die Proben dreißig Jahre zuvor. Besonders verwirrend war, dass Hardys Planktonkollektor diese Kunststoffpartikel zehn Meter unter der Wasseroberfläche, also als Schwebstoffe, eingesammelt hatte. Da Kunststoff in der Regel schwimmt, folgte daraus, dass die Wissenschaftler nur einen Bruchteil des tatsächlich im Wasser vorhandenen Kunststoffs sahen. Im Übrigen nahm die Kunststoffmenge im Meer nicht nur zu, es tauchten auch immer kleinere Stückchen auf – klein genug, um mit den weltweiten Meeresströmungen zu wandern.
Thompsons Forschungsgruppe erkannte, dass die langsame mechanische Wirkung – Wellen und Gezeiten, die gegen die Küsten schlagen und Steine in Strände verwandeln – in gleicher Weise mit den Kunststoffen verfuhr. Die größten, auffälligsten Objekte, die in der Brandung tanzten, wurden allmählich zerrieben. Gleichzeitig gab es kein Anzeichen dafür, dass einer der Kunststoffe biologisch abgebaut wurde, selbst wenn er mechanisch in winzigste Bruchstücke zerlegt wurde.
»Wir dachten, er würde immer kleiner und kleiner zermahlen, zu einer Art von Pulver. Und wir erkannten, dass kleiner und kleiner zu großen und größten Problemen führen kann.«
Selbstverständlich kannte er die scheußlichen Geschichten von Seeottern, die an den Polyethylenringen von Sixpacks erstickt waren, von Schwänen und Möwen, die sich in Netzen und Angelleinen stranguliert hatten, von der toten Suppenschildkröte auf Hawaii, in deren Verdauungstrakt man einen Taschenkamm, dreißig Zentimeter Nylonseil und das Rad eines Spielzeuglastwagens gefunden hatte. Sein schlimmstes persönliches Erlebnis war eine Studie an Sturmvogelkadavern, die an die Küsten der Nordsee angespült worden waren. 95 Prozent der toten Vögel hatten Kunststoffobjekte in ihren Mägen, im Schnitt 44 Stück pro Vogel. Eine solche Menge, auf den Menschen hochgerechnet, wöge mehr als zwei Kilogramm.
Es ließ sich nicht feststellen, ob die Kunststoffobjekte für ihren Tod verantwortlich waren, obwohl mit Sicherheit davon auszugehen war, dass Teile unverdaulichen Kunststoffs vielfach Darmverschlüsse herbeigeführt hatten. Thompson schloss daraus, dass bei dem Zerfall größerer Plastikteile in kleinere Stücke diese wahrscheinlich von kleineren Organismen gefressen würden. Er entwarf ein Aquariumexperiment mit Wattwürmern, die sich von organischen Sedimenten ernähren, mit Entenmuscheln, die im Wasser schwebende organische Substanzen ausfiltern, und Sandflöhen, die von Strandabfällen leben. In dem Experiment bot man den Versuchsorganismen Kunststoffteilchen und -fasern in »mundgerechten« Häppchen dar. Alle verzehrten sie sie augenblicklich.
Wenn die Teilchen in ihren Därmen stecken blieben, erwies sich die Verstopfung als tödlich. Waren die Objekte klein genug, wanderten sie durch den Verdauungstrakt der Wirbellosen und tauchten scheinbar harmlos am anderen Ende wieder auf. Folgte daraus, dass Kunststoffe dank ihrer chemischen Stabilität ungiftig sind? Wann beginnt ihr natürlicher Abbau – und setzen sie dann gefährliche chemische Stoffe frei, die möglicherweise Organismen in ferner Zukunft gefährden?
Richard Thompson wusste es nicht. Niemand wusste es, denn es gab die Kunststoffe einfach noch nicht so lange, dass man entscheiden konnte, wie lange sie bestehen bleiben oder was mit ihnen geschehen würde. Sein Team hatte im Meer bislang neun verschiedene Arten
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