Die Welt ohne uns
Planeten verunstaltet haben. Der industrielle Megakomplex, der an der östlichen Stadtgrenze Houstons beginnt und sich ununterbrochen über 80 Kilometer bis zum Golf von Mexiko hinzieht, ist die weltweit größte Konzentration von Ölraffinerien, petrochemischen Unternehmen und Zwischenlagern.
Da gibt es beispielsweise die mit mehrfachen Reihen von Stacheldraht umgebenen Tanklager, von Goodyear nur durch den Highway getrennt – eine Ansammlung zylindrischer Rohölsilos, jeder mit einem Durchmesser von der Länge eines Fußballfelds, so ausladend, dass sie flach erscheinen. Die allgegenwärtigen Rohrleitungen führen nicht nur in alle Himmelsrichtungen, sondern auch nach oben und unten – weiße, blaue, gelbe und grüne Rohre, die großen von mehr als einem Meter Durchmesser. In Fabriken wie Goodyear bilden die Rohrleitungen so hohe Torwege, dass Lastwagen unter ihnen hindurchfahren können.
Und das sind nur die sichtbaren Rohre. Unter der Erde verzweigt sich ein weiteres riesiges, vielfältig verflochtenes Rohrsystem aus Karbonstahl. Wie in jeder Stadt der entwickelten Welt verlaufen in der Mitte jeder Straße dünne Kapillaren, von denen Abzweigungen in jedes Haus führen. Das sind Gasleitungen mit so dicken Stahlwänden, dass Kompassnadeln eigentlich direkt nach unten zeigen müssten. In Houston jedoch bleiben Gasleitungen bloße Randerscheinungen. Die Rohrleitungen der Raffinerien umgeben die Stadt so dicht wie das Flechtwerk eines Weidenkorbs. Sie befördern sogenannte leichte Fraktionen, das heißt aus Rohöl destillierte oder katalytisch von ihm abgespaltene Stoffe, zu Hunderten von Chemiewerken in Houston. Hunderte anderer Rohre, gefüllt mit frisch raffiniertem Benzin, Heizungsöl, Diesel und Kerosin, führen zur Mutter aller Rohrleitungen – der fast 9000 Kilometer langen, 76 Zentimeter starken Colonial Pipeline, deren Hauptader in Houstons Vorort Pasadena beginnt. Weitere Erzeugnisse nimmt sie in Louisiana, Mississippi und Alabama auf, dann klettert sie zur Ostküste empor, manchmal über der Erde, manchmal darunter. In der Regel ist die Colonial mit verschiedenen Treibstoffsorten gefüllt, die hintereinander mit rund sechs Stundenkilometern hindurchgepumpt werden, bis sie nach einer zwanzigtägigen Reise – vorausgesetzt, es gab keine Abschaltungen oder Hurrikane – im Terminal Linden, New Jersey, etwas unterhalb des Hafens von New York, ausgespieen werden.
Stellen Sie sich künftige Archäologen vor, die sich kriechend einen Weg durch alle diese Rohre suchen. Welchen Reim werden sie sich auf die dicken alten Stahlkessel und die vielen Schlote machen? (Falls es sie dann überhaupt noch gibt und nicht der gesamte Bestand an alten Industrieanlagen, eng miteinander verschachtelt, weil es bei deren Errichtung noch keine Computer zur Ermittlung von Sicherheitsabständen gab, längst abgebaut und verscherbelt ist – nach China, das derzeit in Amerika Eisenschrott für Zwecke einkauft, welche die Historiker des Zweiten Weltkriegs mit einigen Bedenken erfüllen.) Folgten diese Archäologen den Rohren in mehr als hundert Metern Tiefe, würden sie auf etwas stoßen, das gute Aussichten hat, zu den bleibendsten Dingen zu zählen, die je von Menschenhand gefertigt wurden.
Unter der texanischen Golfküste liegen rund 500 Salzstöcke, die sich bildeten, als aus 8000 Meter tiefen Flözen Salze in darüber liegende Sedimentschichten aufstiegen.
Einige Stöcke liegen direkt unter Houston. Diese zigarrenförmigen Gebilde können Durchmesser von mehr als anderthalb Kilometern aufweisen. Wenn man einen solchen Salzstock anbohrt und anschließend Wasser einleitet, kann man sein Inneres auflösen und den entstandenen Hohlraum als Lager nutzen.
Einige solche Speicherkavernen unter der Stadt sind knapp 200 Meter breit und mehr als 800 Meter hoch, womit sie auf das doppelte Volumen eines modernen Fußballstadions kommen. Da Wände aus Salzkristall als undurchdringlich gelten, werden sie zur Speicherung von Gasen benutzt, darunter auch einige sehr explosive wie etwa Ethylen. Das Gas wird direkt in eine unterirdische Salzstockkaverne geleitet und unter einem Druck von 100 Kilogramm pro Quadratzentimeter gespeichert, bis man es zu Kunststoff verarbeitet. Da Ethylen sehr flüchtig ist, kann es sich rasch auflösen und eine Rohrleitung glatt aus dem Boden sprengen. Vermutlich wären künftige Archäologen gut beraten, die Salzkavernen unangetastet zu lassen, sonst könnte ihnen dieses Relikt einer längst vergangenen
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