Die Welt ohne uns
Zivilisation gehörig um die Ohren fliegen.
Wie seelenlostechnische Nachbildungen der Moscheen und Minarette an den Gestaden des Bosporus sehen die Kuppeln der riesigen Ölsilos und die silbernen Cracktürme aus, die Houstons Silhouette an den Ufern des Ship Channel ausmachen. Die flachen Tanks, in denen flüssige Brennstoffe bei Lufttemperatur gelagert werden, sind geerdet, damit sich die Dämpfe, die sich in dem Raum unter dem Dach sammeln, nicht bei einem Gewitter entzünden. In einer Welt ohne Menschen, wenn niemand die doppelwandigen Tanks inspizierte, striche und sie nach zwanzig Jahren ersetzte, wäre es interessant zu sehen, ob zuerst die Böden korrodierten und den Inhalt in den Boden sickern ließen oder ob vorher die Erdung zerfiele – woraufhin Explosionen für einen noch rascheren Verfall der Metallkonstruktionen sorgen würden.
Einige Tanks mit beweglicher Glocke, die sich mit deren flüssigem Inhalt hebt und senkt, um die Bildung von Dämpfen zu verhindern, werden noch rascher defekt werden, weil ihre elastischen Abdichtungen schon bald leck werden. Dann verdunstet der Inhalt und entlässt die letzten, von Menschen extrahierten Kohlenwasserstoffe in die Atmosphäre.
Komprimierte Gase und einige hochentzündliche Chemikalien, wie etwa Phenole, werden in Kugeltanks aufbewahrt, die sicherlich länger halten werden, weil ihre Außenhaut nicht den Boden berührt – obwohl sie, da sie unter Überdruck stehen, noch spektakulärer explodieren, sobald ihr Funkenschutz weggerostet ist.
Was liegt unter diesen Industriekomplexen, und wie groß sind die Aussichten, dass es sich jemals von den Wunden erholen kann, die ihm die Petrochemie hier mit ihrer ungeheuren Massierung von Metall und Chemie während der letzten hundert Jahre geschlagen hat? Sollte diese unnatürlichste aller irdischen Landschaften jemals von den Menschen aufgegeben werden, die dafür sorgen, dass weiterhin Gas abgefackelt wird und ihre Treibstoffe weiterhin fließen, stellt sich die Frage, wie es der Natur jemals gelingen könnte, den Texas Petroleum Patch, den »großen texanischen Ölfleck« zu beseitigen, von seiner Dekontamination ganz zu schweigen.
Einst erstreckten sich die 1600 Quadratkilometer Houstons zu beiden Seiten einer Grenze zwischen einer Prärie mit Bart- und Moskitogräsern, die einem Pferd bis zum Bauch reichten, und einem mit niedrigen Kiefern bewachsenen Feuchtgebiet, das zum ursprünglichen Mündungsdelta des Brazos River gehörte (und noch immer gehört). Der schmutzigrote Brazos beginnt am anderen Ende des Bundesstaats. In einer Entfernung von 1500 Kilometern entwässert er die Berge von New Mexico, durchschneidet das texanische Hügelland und entlädt schließlich eine der größten Schlammladungen des Kontinents in den Golf von Mexiko. Als während der Eiszeit die kalten Winde von den Gletschern mit der Warmluft des Golfs zusammenstießen und dadurch sintflutartige Regenfälle auslösten, lagerte der Brazos so viele Sedimente ab, dass er sich selbst den Weg verlegte und infolgedessen seinen Verlauf in einem fächerförmig ausgebreiteten Flussdelta von 150 Kilometern Breite ständig veränderte. Heute fließt er unmittelbar im Süden der Stadt vorbei. Houston liegt an einem toten Arm des Flusses auf 12 000 Meter hohen Lehmablagerungen.
In den 1830er Jahren lockte dieser magnoliengesäumte Flussarm, Buffalo Bayou, Unternehmer an, denen nicht entgangen war, dass er von der Galveston Bay bis zur Prärie schiffbar war. Zunächst transportierte man von der neu erbauten Stadt auf diesem Binnenwasserweg Baumwolle zum 80 Kilometer entfernten Hafen von Galveston, der damals größten texanischen Stadt. Nach 1900, als der fürchterlichste Hurrikan in der Geschichte der Vereinigten Staaten Galveston heimsuchte und 8000 Menschen zu Tode kamen, wurde der Buffalo Bayou zum Houston Ship Channel verbreitert und vertieft, um aus der Stadt einen Seehafen zu machen. Dieser ist heute, am Frachtaufkommen gemessen, Amerikas größter Seehafen und Houston selbst so groß, dass Cleveland, Baltimore, Boston, Pittsburgh, Denver und Washington bequem darin Platz hätten und es noch immer nicht ganz ausfüllten.
Galvestons Unglück fiel zeitlich zusammen mit der Entdeckung von Ölvorkommen entlang der texanischen Golfküste und der Entwicklung des Automobils. Sumpfkieferbestände, Laubwälder im Schwemmlanddelta und die küstennahe Prärie mussten Bohrtürmen und Dutzenden von Raffinerien an den Ufern des Houston-Kanals weichen. Als
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