Die Welt ohne uns
Polymerketten des Kautschuks mittels kurzer Schwefelbrücken und verwandelt sie dadurch praktisch in ein einziges Riesenmolekül. Sobald Kautschuk vulkanisiert ist – das heißt, erwärmt, mit Schwefel versetzt und in eine bestimmte Matrize, etwa die eines Lkw-Reifens, gegossen ist, nimmt das resultierende Riesenmolekül die entsprechende Form an und verliert sie nie wieder.
Da ein solcher Reifen ein einziges Molekül ist, kann er nicht eingeschmolzen und in etwas anderes verwandelt werden. Wenn er nicht mechanisch geschreddert wird oder durch die Reibung nach 100000 Kilometern abgewetzt ist, wozu in beiden Fällen ein beträchtlicher Energieaufwand nötig ist, behält er seine runde Form. Autoreifen sind ein rotes Tuch für die Betreiber von Mülldeponien: Sie fangen durch ihre Form die Gase ab, die bei der Zersetzung organischer Abfälle entstehen, bekommen so Auftrieb und neigen dazu, innerhalb der Müllgrube nach oben zu wandern, was wiederum die Abdeckung zu beschädigen droht. Die meisten Müllhalden nehmen sie daher nicht mehr an, doch noch viele hundert Jahre lang werden sich alte Autoreifen unaufhaltsam ihren Weg an die Oberfläche vergessener Deponien bahnen, sich mit Regenwasser füllen und zur Brutstätte neuer Stechmücken werden.
In den Vereinigten Staaten wird jährlich pro Kopf im Schnitt ein Autoreifen fortgeworfen – das sind über 300 Millionen in einem einzigen Jahr. Und dann ist da noch der Rest der Welt. Angesichts von 700 Millionen Autos, die gegenwärtig auf den Straßen unterwegs sind, und einer weit höheren Zahl verschrotteter Fahrzeuge wird die Zahl der Reifen, die wir zurücklassen, vielleicht keine Billiarde betragen, aber ganz bestimmt viele, viele Milliarden. Wie lange sie dann noch herumliegen, hängt davon ab, wie viel direktes Sonnenlicht auf sie fällt. Bis die Evolution einen Mikroorganismus hervorbringt, dem die mit Schwefel gewürzten Kohlenwasserstoffe zusagen, brechen die vulkanisierten Schwefelbrücken nur bei der Oxidation mit bodennahem Ozon, dem Luftschadstoff, der unsere Nasenschleimhäute reizt, oder unter dem Einfluss jener kosmischen Energie, welche die UV-Strahlung beim Durchdringen der geschädigten Ozonschicht in der Stratosphäre freisetzt. Daher imprägniert man Autoreifen mit UV-Hemmstoffen und »Antiozonanten« und gibt noch andere Additive wie Ruß hinzu, der den Reifen Haltbarkeit und Farbe verleiht.
Bei so viel Kohlenstoff in den Reifen kann man sie auch verbrennen, was erhebliche Energie freisetzt – der Grund, warum sie so schwer zu löschen sind. Außerdem bleiben überraschende Mengen an öligem Ruß zurück, und mit ihm Schadstoffe, die aus einer Entwicklung während des Zweiten Weltkriegs stammen: Nachdem Japan in Südostasien eingefallen war, kontrollierte es fast die gesamte Gummiherstellung der Welt, und da man erkannte, dass man mit Lederdichtungen und Holzrädern nicht sehr weit kommen würde, beauftragten Deutschland und die Vereinigten Staaten ihre führenden Industrieunternehmen, einen Ersatzstoff für Gummi zu entwickeln.
Heute befindet sich die größte Fabrik für synthetischen Kautschuk in Texas. Sie gehört zur Goodyear Tire & Rubber Company und wurde 1942 erbaut, kaum dass Forscher herausgefunden hatten, wie man dieses Kunstprodukt herstellen kann. Anstelle lebendiger tropischer Bäume verwendete man tote Meerespflanzen: Phytoplankton, das vor 300 bis 350 Millionen Jahren abstarb und auf den Meeresgrund sank. Schließlich – so jedenfalls die Theorie, denn der genaue Vorgang ist nur bruchstückhaft erforscht und wird gelegentlich bestritten – wurde das Phytoplankton von so vielen Sedimenten bedeckt und so stark zusammengepresst, dass es sich in eine viskose Flüssigkeit verwandelte. Wie man aus diesem Rohöl verschiedene brauchbare Kohlenwasserstoffe raffinieren konnte, wusste man bereits. Zwei von ihnen -Styrol, ein Schaumstoff, und Butadien, ein explosiver und stark krebserregender flüssiger Kohlenwasserstoff – lieferten die Ausgangsmischung für die Herstellung von künstlichem Kautschuk. Sechzig Jahre später produziert das Unternehmen Goodyear noch immer auf der gleichen verfahrenstechnischen Grundlage das Ausgangsmaterial für alle seine Erzeugnisse – von Reifen für Rennwagen bis zum Kaugummi.
So groß die Fabrik auch ist, sie wird erschlagen vom Ausmaß des Industriegebiets, das in ihrer Umgebung entstanden ist: eines der monumentalsten Zeugnisse für die menschliche Bauwut, mit der wir die Oberfläche unseres
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