Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Welt ohne uns

Die Welt ohne uns

Titel: Die Welt ohne uns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Weisman
Vom Netzwerk:
Bäume, die sie fällten, und die Stümpfe, die sie aus dem Boden rissen, waren Teil jenes Mischwaldes aus Harthölzern, Kiefern und Fichten, den wir heute mit Neuengland gleichsetzen – was nur möglich ist, weil diese Bäume zurückgekehrt sind.
    Anders als in den meisten Regionen der Erde dehnen sich Neuenglands Wälder aus und sind heute weit größer als 1776 bei der Gründung der Vereinigten Staaten. 50 Jahre nach der amerikanischen Unabhängigkeit war der Eriekanal quer durch den Staat New York gegraben und Ohio, seinerzeit noch Teil des Nordwestterritoriums, erschlossen – ein Gebiet, dessen kürzere Winter und fettere Böden die mühsam um ihren Lebensunterhalt kämpfenden Yankee-Farmer lockte. Außerdem kehrten Tausende nach dem Bürgerkrieg nicht auf ihre Höfe zurück, sondern gingen stattdessen in die Fabriken und Spinnereien, deren Maschinen von Neuenglands Flüssen angetrieben wurden – oder brachen in den Westen auf. Als die Wälder des Mittleren Westens den Siedlern wichen, kehrten die Wälder Neuenglands zurück.
     
    Die Trockenmauern – Natursteinmauern ohne Mörtel –, an denen fleißige Bauernhände drei Jahrhunderte lang bauten, folgen den Bewegungen des Bodens, wenn er sich mit den Jahreszeiten hebt und senkt. Sie werden noch einige Jahrhunderte lang zur neuenglischen Landschaft gehören, bis genügend altes Laub zu Erde geworden ist und sie begraben hat. Doch wie ähnlich sind die Wälder, die um sie her wachsen, dem, was hier gedieh, bevor die Europäer oder vor ihnen die Indianer eintrafen? Und was würde aus diesen Wäldern werden, wenn sie sich selbst überlassen wären?
    1980 bestritt der Geograf William Cronon in seinem Buch Changes in the Land die Auffassung jener Historiker, die behaupten, die ersten Europäer, die in die Neue Welt gelangt seien, hätten einen unberührten Urwald angetroffen – einen Wald, der angeblich die gesamte Fläche des Kontinents so dicht bedeckte, dass ein Eichhörnchen in den Baumwipfeln von Ast zu Ast hüpfend von Cape Cod bis an den Mississippi hätte gelangen können, ohne ein einziges Mal den Boden berühren zu müssen. Die Indianer wurden als primitive Eingeborene geschildert, die den Wald bewohnten und von ihm lebten, ohne ihn stärker zu prägen als beispielsweise die Eichhörnchen. Getreu der Thanksgiving-Legende der Pilgrim Fathers galt es als erwiesen, dass die Indianer eine begrenzte, schonende Landwirtschaft praktizierten, indem sie Mais, Bohnen und Kürbisse anbauten.
    Heute wissen wir, dass viele der angeblich unberührten Landschaften Nord- und Südamerikas in Wirklichkeit das Ergebnis enormer, von Menschenhand bewirkter Veränderungen waren, die mit dem Massaker an der Megafauna begannen. Die ersten dauerhaften Bewohner Amerikas brannten mindestens zweimal im Jahr das Unterholz nieder, um sich die Jagd zu erleichtern. Die meisten Feuer waren begrenzt, nur zur Vernichtung von Sträuchern und Ungeziefer gedacht, aber man verbrannte auch gezielt ganze Baumgruppen, um Fallen und Schneisen anzulegen und das Wild so in die Enge zu treiben.
    Die Überquerung des Kontinents in den Baumwipfeln wäre nur Vögeln möglich gewesen. Noch nicht einmal Gleithörnchen hätten das geschafft, weil sie Flügel gebraucht hätten, um die breiten Korridore zu überwinden, wo die Wälder zu Grasland mit Bauminseln gelichtet oder vollkommen verschwunden waren. Die Steinzeitindianer beobachteten, was nachwuchs, wenn durch Blitzschlag Lichtungen entstanden waren, und lernten Waldwiesen anzulegen, deren Beeren und Kräuter Hirsche, Wachteln und Truthähne anlocken sollten. Schließlich ermöglichte das Feuer ihnen das, was die Europäer und ihre Nachfahren später in so großem Maßstab praktizierten – sie betrieben Landwirtschaft.
    Doch es gab eine Ausnahme: Neuengland, eine der ersten Gegenden, in denen Kolonisten eintrafen und blieben, was vielleicht zum Teil erklärt, warum die irrige Vorstellung von einem ganzen jungfräulichen Kontinent so verbreitet ist.
    »Heute sind wir uns einig«, meint der Harvard-Ökologe David Foster, »dass der präkoloniale Osten Amerikas eine große Bevölkerung hatte, die sich von der Landwirtschaft, speziell dem Maisanbau, ernährte, in festen Dörfern wohnte und den Wald für Felder rodete. So weit, so gut. Aber hier lagen die Dinge anders.«
    Es ist ein herrlicher Septembermorgen im dicht bewaldeten Zentralgebiet von Massachusetts, kurz vor der Grenze zu New Hampshire. Foster ist in einem Bestand hoher Weymouth-Kiefern

Weitere Kostenlose Bücher