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Die Weltenwanderer

Die Weltenwanderer

Titel: Die Weltenwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Sons
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ein Knie nieder, küsste erst ihre Hand dann ihre Wange und erwiderte mit einem Lächeln: »Ich werde aufpassen. Sollte ich Hilfe brauchen, werde ich kommen. Ich danke dir, Großmutter.«
    Schon auf der Treppe vernahm er ihre beschwörende, drängende Stimme. »Eil dich, Aeneas! Ich spüre es deutlich: Der Junge ist in diesem Augenblick in Lebensgefahr.«
    Der Ringlord stürzte die nächsten Stufen in geradezu halsbrecherischem Tempo hinunter.

    Die Standuhr in der Halle schlug viermal. Schneeregen prasselte vom Sturm gepeitscht gegen die Fensterscheiben.
    Erik warf sich im Bett hin und her. Er wurde immer unruhiger und murmelte unverständlich vor sich hin. Sein Oberkörper ruckte hoch. Er schwang die Beine aus dem Bett. Barfuß schlurfte er aus dem Zimmer den dunklen Gang entlang. Er hörte wieder die befehlende Stimme in seinem Kopf.
    »Komm, Eirik! Komm zu mir!«
    Langsam tapste er die Treppe hinunter und durchquerte die Halle. Die Eingangstür öffnete sich wie von Geisterhand. Ein Schwall kalter Luft fegte in die Halle und ließ das Kristall des Kronleuchters klirren.
    »Komm, Eirik!«
    Er trat hinaus in die Nacht. Die Wegeleuchten, die die Auffahrt in helles Licht tauchten, erloschen. Die Tür hinter ihm fiel mit leisem Klacken zu. Erik spürte weder Schneeregen noch Kälte. Mit unsicheren Schritten stieg er die Freitreppe hinunter. Auf der untersten Stufe glitt er aus und stürzte. Kurze Zeit blieb er regungslos im Schneematsch liegen.
    »Komm, Eirik! Ich warte auf dich.«
    Mühsam rappelte er sich hoch. Sein Schlafanzug war klitschnass, sein rechter Fuß blutete. Er wankte über den Kies, der unter seinen Füßen knirschte, vorbei an Bäumen, die ihre kahlen Äste wie Geisterfinger in den sternenlosen Himmel reckten. Regen peitschte ihm ins Gesicht. Steine stachen schmerzhaft in seine Fußsohlen. Sein Gang wurde immer unsicherer.
    Eine Sturmbö riss ihn fast von den Füßen und ließ ihn verharren. Es war so unheimlich. Er spürte Furcht, wollte schreien, bekam jedoch keinen Ton heraus.
    »Eirik! Eirik!«
    Er torkelte wie ein Betrunkener, presste die Hände auf die Ohren und sackte auf die Knie. Das war nicht die Wirklichkeit. Angst ließ ihn zittern. Er hörte die Stimme wieder, wollte sie verdrängen und presste seine Hände noch fester an den Kopf.
    »Eirik! Eirik!«
    Wie an Fäden gezogen, erhob er sich, stolperte weiter und kämpfte gegen den Sturm an.
    Die schmiedeeiserne Pforte öffnete sich quietschend. Er tapste hindurch und weiter durch die Straßen auf den Kirchturm zu. Jedes Gefühl schien ihn zu verlassen. Etwas war falsch, aber er wusste nicht, was. Er wollte sich an seine Furcht klammern, doch sie verschwand.
    Eine Katze huschte ihm über den Weg, ließ ihn erneut straucheln.
    »Komm, Kind! Es ist nicht mehr weit.«
    Der Pfad hoch zum Turm war aufgeweicht. Knöcheltief versanken seine Füße im eisigen Matsch. Eriks nasser Körper bebte vor Kälte, seine Zähne klapperten unkontrolliert.
    Die Tür zum Kirchturm stand offen. Fahles Licht drang nach draußen.
    Er stolperte über die Schwelle und stürzte fast in den Raum.
    »Komm!«
    Das Tor hinter ihm fiel ins Schloss.
    Schritt für Schritt erklomm er die morschen Stufenbretter des Glockenturms, stieg höher und höher und hinterließ dabei blutige Spuren. Es knackte und knirschte unter seinen Füßen. Ein Brett zersplitterte, ein Stück Holz fiel in die Schwärze. Erik ignorierte alles, schleppte sich auf allen Vieren weiter, immer weiter bis hinauf in die Turmspitze. Schneeregen prasselte durch die offene Dachluke auf ihn herunter. Er kniff die Augen zusammen, kletterte nach draußen. Sturm riss ihn fast von den Füßen. Instinktiv suchte er Halt an der Glocke, aber die war so eisig, dass er die Hände wegriss, als hätte er sich verbrannt. Wie durch dicken Nebel sah er einen Mann vor sich und hörte ein leises, heiseres Lachen.
    »Der Kreis schließt sich, Eirik. Du wolltest doch gern deine Eltern kennen lernen? Es ist so weit. Wenn die Glocke klingt, wirst du über die Brüstung steigen und springen - direkt in die Arme deines Vaters. Dieses Wiedersehen wird eine Freude für euch sein. Leider kann ich nicht bleiben, um diesen schönen Augenblick mitzuerleben. Ich muss dich jetzt verlassen. Aber keine Angst: Es wird nicht mehr lange dauern, dann bist du mit deinen Eltern vereint. Hast du alles verstanden?«
    Erik nickte, wankte auf die brusthohe Turmmauer zu.
    Knarrend schloss sich die Luke. Die schwere Glocke, die dem Sturm bisher getrotzt

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