Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
der Tao-Art. Hier überspringt ein ethischer Grundsatz
den Familien- und Gruppenegoismus, das Nationalgefühl und die Vorurteile. Er wird zum universalen Ethos, das auch die Tierwelt
mit einschließt. Alle, Tiere wie Menschen, torkeln und taumeln unerlöst durch den blinden Kreislauf der Wiedergeburten.
|59| »Wenn auch nur ein Tropfen Wasser zitternd leidet« – der Jainismus
Siddharta war nicht der Einzige, der nach einer grundsätzlichen Lösung suchte, um dem infernalischen Schlacht- und Gebärhaus
des Samsara zu entkommen. Auch die Jaina-Bewegung stellte ihre Lehre auf eine endgültige Beendigung des Wiederholungszwangs
ab. Die Jainas waren schon lange fest in Indien etabliert und erfuhren durch Mahavira eine tief greifende Erneuerung. Dieser
war ein Zeitgenosse Siddhartas, entstammte ebenfalls der Kriegeradels-Kaste und lebte und wirkte im nordöstlichen Indien.
Merkwürdig, dass sich die beiden Männer angeblich nie begegnet sind! Ihre Wege müssen sich über Jahrzehnte hinweg ständig
gekreuzt haben.
Mahavira vertrat einen konsequent dualistischen Standpunkt: Geist und Materie stehen sich auf ewig unversöhnlich gegenüber.
Durchgeistigt, beseelt sind alle Lebewesen, auch die Pflanzen. Und die Materie hat es darauf abgesehen, die Seelen gefangen
zu halten. Das Karma, von Mahavira rein mechanistisch betrachtet, setzt sich in Form von kleinsten Materieteilchen an der
Seele fest, bindet sie an die materielle Welt und damit an den Kreislauf der Wiedergeburt. Eine Befreiung davon gibt es nur,
wenn sich die Seele entstofflicht und völlig vergeistigt. Das geschieht unter anderem durch eine konsequent vegetarische Ernährung
sowie durch die strikte Einhaltung des Gebots der Gewaltlosigkeit, Ahimsa genannt.
Die Jaina-Bewegung entzweite sich später in die Parteien der »Bekleideten« und der »Nacktgänger«. Ältere Buddha- und Mahavirastatuen
sehen sich manchmal bis in die Haltung und bis in die Gesichtszüge verblüffend ähnlich. Während Buddha ein Mönchsgewand trägt,
ist Mahavira jedoch nur mit Luft bekleidet. Die Nacktgänger verstanden das Ahimsa-Gebot derart radikal, dass sie sogar auf
Kleider verzichteten, da die Stoffe aus pflanzlichen oder tierischen Produkten bestanden, die durch ausströmendes Karma die
Seele beschwerten. Die Gegenpartei der Bekleideten mochte so weit nicht gehen. Denn damit wurden die Frauen vom Heilsweg praktisch
ausgeschlossen, weil es ihnen kaum möglich war, nackt zu gehen, ohne Begierden zu erregen. Die sexuelle Enthaltsamkeit gehörte
für Mahaviras und für Buddhas Mönche zum obersten Gesetz. Die Jainas legten sie auch ihren Laien-Anhängern mit der Begründung
nahe, dass beim Sexualakt unzählige Samenwesen vernichtet würden.
Sogar eine rein vegetabile Ernährung, die sich allem enthält, das seine Entstehung dem Koitus verdankt, war für die Jainas
hoch problematisch, besaßen |60| doch auch die Pflanzen ebenso wie die Menschen und Tiere lebendige Seelen. Da blieb als letzte Konsequenz eigentlich nur der
Hungertod. In der Tat ist der rituelle Tod durch Fasten der krönende Abschluss eines Mönchslebens – bis heute. Ein Jaina,
Mönch oder Laie, kann sich in die Obhut eines Meisters begeben und um Sterbebegleitung bitten. Er oder sie gelobt dabei, »von
jetzt an bis zum letzten Atemzug auf Essen und Trinken zu verzichten«. Die von aller materiellen Erdenschwere befreite Seele
steigt empor bis zum höchsten First der Welt. Dort verharrt sie in ewiger Allbeschaulichkeit und Allwissenheit. Mahavira selbst
wählte mit 72 Jahren den Fastentod.
Während Buddha ein Mönchsgewand trägt, ist Mahavira nur mit Luft bekleidet.
|61| Der Überlieferung zufolge ließ Buddha kein gutes Haar an den Jainas. Er beschuldigte sie zehn grober Fehler, unter anderem
der Zucht- und Schamlosigkeit, der Arroganz und Verstocktheit. Die Sutras brandmarken Mahaviras Lehre als heuchlerisch und
verbrecherisch. Ob Buddha selbst sich so äußerte? Wir wissen es nicht. Der Buddhismus, der sich bald als allein selig machend
ausgab, sah in Mahaviras Lehre immer eine starke Konkurrenz.
Und das war sie tatsächlich. Nach tausend Jahren verschwand Buddhas Botschaft fast völlig aus Indien, während die Jainas sich
dort bis in unsere Gegenwart mühelos behaupteten. Zahllose Übereinstimmungen gibt es zwischen beiden Religionen, in der Lehre
wie in der Organisation. Selbst den weisen Brahmanen fiel es manchmal schwer, die beiden auseinander zu
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