Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
nämlich waren die Söhne Ismaels. Sie verehrten einen Götzen, den sie
Al-Akbar, den Höchsten, nannten. Sie umgaben ihn mit Tafeln lüsterner Liebesgedichte, die sie über dessen Kopf anbrachten.
Das waren ihre Gebete. Als Buheira merkte, dass Muhammad einer der Ismaeliten war, hatte er Wohlgefallen an ihm, wegen der
gleichen Sprache, ihrer Freundschaft und weil er Muhammads Wissensdurst spürte. Da las er ihm einige Kapitel aus den Evangelien,
der Bibel und den Psalmen vor. Als Muhammad nach Mekka zurückkehrte, sagte er seinen Freunden: ›Wehe euch, ihr lebt in schrecklichem
Irrtum und eure Verehrung ist nichtig!‹ Sie sagten: ›Was ist mit dir, Muhammad?‹ Er sagte: ›Ich fand den wirklichen Gott!‹
Sie |164| sagten: ›Wie heißt er?‹ Er antwortete: ›Sein Name ist Allah, der Himmel und Erde schuf mit allen Geschöpfen darin. Er sendet
mich euch als Zeichen seiner Barmherzigkeit!‹ Sie sagten: ›Kannst du uns zeigen, wo er ist?‹ Er sagte: ›Seine Wohnstatt ist
der Himmel. Er sieht alles, doch er ist unsichtbar!‹ Sie sagten: ›Wir haben unseren eigenen Gott, den wir anbeten und verehren,
unsere Voreltern hinterließen uns ihre Religion und damit sind wir zufrieden.‹«
Die Überlieferung kennt einige solcher Geschichten. Als historische Dokumente lassen sie sich nicht verwerten, doch mag es
wohl zu solchen Begegnungen gekommen sein.
Mit den jüdischen und christlichen Traditionen, die sich später im Koran spiegeln, war Muhammad offenbar schon vor seiner
Berufung vertraut. Er kannte die Tora und das christliche Neue Testament freilich allein vom Hörensagen, und es ist umstritten,
ob er überhaupt schreiben und lesen konnte. Hebräisch, Aramäisch oder Griechisch, die Sprachen der Bibel, waren dem Gesandten
ganz bestimmt verschlossen. Orthodoxe Muslime stellen Muhammad als Analphabeten dar, um sicherzustellen, dass er keinen Buchstaben
des Korans selbst geschrieben haben konnte. Darauf bestand auch der Prophet selbst: Die Offenbarungen des Korans seien ihm
Wort für Wort eingegeben worden, einschließlich der darin enthaltenen biblischen Rückblenden. Diese aber sollten zur Streitsache
zwischen ihm und den Juden werden. Denn in den koranischen Lebensbildern von Abraham, Moses und den Propheten erkannten die
schriftkundigen Juden ihre Hebräische Bibel nicht wieder. Und die war doch älter als Muhammads Koran! Daran gab es keinen
Zweifel! Eine schwierige Situation, für beide Seiten, zumal für Muhammad. Dieser war sich seiner Berufung sicher, hinter sie
konnte er nicht zurück.
Seine Verkündigung enthält ebenfalls Elemente aus der arabischen Volksreligion. Allah kannten die Mekkaner schon lange. Sie
verehrten ihn als fernen Himmelsgott in der Kaaba, riefen ihn in rituellen Begehungen sogar als den einen, einzigen Gott an,
wie alte Inschriften bezeugen. An Allah als den Weltenschöpfer wandte man sich schon vor Muhammad in höchster Not, ihm weihte
man die Erstlingsopfer, der »Herr der Kaaba« wachte über das Gastrecht. Neben und mit ihm verehrten die Mekkaner und Pilger
eine Unzahl von anderen Himmelsbewohnern. Besonders die Töchter Allahs, Manat, al-Lat und al-Uzza standen bei den arabischen
Stämmen in hohem Ansehen. Muhammad fegte sie alle beiseite. Allah – zusammengezogen aus al-ilah: »der Gott«– wurde zum Gott
schlechthin, ohne Artikel, ohne Geschlecht, ohne Pluralform. Das war neu, radikal neu in seiner Ausschließlichkeit. In dieser
streitbaren |165| Exklusivität begegnet uns Allah in Muhammads prophetischer Botschaft. Sein Wesen erinnert an den eifernden Gott Jahwe des
Judentums.
Die Berufung: »Trag vor in des Herrn Namen!«
Auf Muhammads erstes Berufungserlebnis spielt der Koran mehrmals an, auch in den ersten Versen der 53. Sure. Der Koran, das
heilige Buch des Islam, wurde dem Propheten Muhammad in den Jahren von 608 bis 632 unserer Zeit durch einen Engel verkündet
und besteht aus insgesamt 114 Suren, gereimten Abschnitten, mit 6236 Versen. Er verkörpert für die Muslime das Wort Gottes,
bildet die Grundlage des islamischen Rechts, der Scharia, ist daher frei von Widersprüchen, sprachlich vollkommen und in keine
andere Sprache übersetzbar. Ich werde später noch einmal auf den Koran als Ganzes zurückkommen und was er für die muslimische
Frömmigkeit bedeutet.
In der 53. Sure nimmt die Botschaft den Propheten in Schutz vor seinen Verleumdern, die ihm unterstellen, er sei ein Betrüger,
bloß ein
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