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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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von der Pförtnerloge abgeholt hat. Die meisten sind von seiner Bank und adressiert an Dr. Black, Queens’ College Cluedo Society. In dem einzigen, den er bis jetzt geöffnet hat, steht, er möge sich bitte sofort bei seiner Filiale melden. Die anderen macht er gar nicht erst auf und versucht, fürs Erste nicht an ihren Inhalt zu denken.
    Kurz vor eins stellt er sich vor den Eingang zum Queens’ College und sieht die Silver Street hinunter. Da kommen sie, Hand in Hand, Doro lächelt und kommentiert im Vorbeischlendern die Gebäude und die Leute auf der Straße, Oolie macht bei jedem dritten Schritt einen kleinen Hüpfer. Was zum Teufel hat Doro da an? Er kann es nicht fassen. Neonpink von circa 1990. Mit spitzem Revers. Oh Gott. Und Oolie ist auch nicht viel besser angezogen, in einem weißen Anorak, in dem sie aussieht wie das Michelin-Männchen, aber zumindest hat sie die Entschuldigung, dass Doro ihn für sie ausgesucht hat.
    Kaum hat Oolie Serge entdeckt, lässt sie Doros Hand los und rennt auf ihn zu, um ihn zu umarmen.
    »Hallo, Sellerie!«
    »Hallo, Oolie. Hallo, Mum.«
    Weitere Umarmungen folgen. Schlichte, frohe Umarmungen. Er hat Tränen in den Augen. Wenn er sich nur der Last seiner Geheimnisse entledigen könnte. Wenn er nur nicht diese Tüte mit Briefen mit sich herumschleppen müsste wie eine Eisenkugel an einer schweren Kette um sein Herz. Wenn er nur Teil ihrer schlichten, frohen Welt sein könnte.
    »Was meint ihr, sollen wir uns einen Kahn mieten?«
    »Willst du uns nicht dein Zimmer zeigen, Serge? Oolie würde so gern dein Zimmer sehen.«
    »Nein, das geht gerade nicht. Wisst ihr ...«, er senkt die Stimme zu einem Flüstern, er hat sich vorbereitet, »... eine Freundin von mir, sie besucht ein Frauencollege, und jetzt hat sie die Liebe ihres Lebens kennengelernt, jedenfalls hält sie ihn dafür, aber sie kann ihn nicht mit in ihr Zimmer nehmen, weil Männerbesuch nicht erlaubt ist. Ich habe gesagt, wenn sie will, kann sie mein Zimmer haben. Da ich sowieso den ganzen Nachmittag mit euch unterwegs bin. Ihr wisst ja«, sagt er und lächelt entwaffnend, »die Wege der Liebe ...«
    Doro lächelt mitfühlend. »Man sollte meinen, dass diese archaischen paternalistischen Regeln inzwischen abgeschafft wären.«
    »Poppen die?«, fragt Oolie.
    Der Kahnverleih ist direkt um die Ecke. Er steigt zuerst ins Boot, verstaut die Tüte unter dem Sitz und hilft Oolie. Sie springt unbeholfen an Bord, und der Kahn schwankt bedenklich.
    Doro kreischt auf.
    Der junge Mann vom Kahnverleih sagt: »Keine Sorge, die Dinger sind total stabil. Kommt so gut wie nie vor, dass eins kentert.«
    Serge steht am hinteren Ende, den Staken in der Hand. Er hat das ewig nicht mehr gemacht, aber wenn man erst mal denRhythmus gefunden hat, ist es ganz einfach. Noch einfacher ist es, wenn man groß ist und einen Waschbrettbauch hat, der sich unter dem T-Shirt abzeichnet, aber obwohl beides nicht auf ihn zutrifft, sehen die beiden Frauen in seinem Kahn voller Bewunderung zu ihm hoch. Er stößt ab – swuusch !
    Es ist einer dieser perfekten Oktobertage, sonnig und klar, mit goldenen Blättern, die auf dem schwarzen Wasser treiben, und späten Touristen, die sich auf den Brücken sammeln wie Vögel, die bald gen Süden fliegen. Die Luft ist frisch und kalt, aber er schwitzt bereits, als er unter der berühmten Mathematikbrücke hindurchmanövriert. Seine Laune bessert sich, als er den wohlbekannten Vortrag über Tangenten und Radialverbindungen von sich gibt.
    »Die Brücke war der eigentliche Auslöser, warum ich ans Queens’ College gegangen bin.«
    »Ich sehe keine Tang-Enten«, sagt Oolie.
    »Du bist so klug, mein Schatz«, sagt Doro.
    Bis jetzt läuft alles wie geschmiert.
    Auf dem Fluss herrscht noch Betrieb. Zwischen King’s College Bridge und Clare Bridge gleiten sie an den Backs vorbei, friedlichen Rasenflächen, die sich bis zum Flussufer erstrecken, wo Trauerweiden die Äste ins Wasser hängen lassen. Zu guter Letzt überkommt ihn doch ein Hauch von Nostalgie.
    Oolie taucht die Hand ins Wasser und spritzt Doro nass.
    »Hör auf, Oolie«, sagt Doro. »Und setz dich richtig hin, sonst bringst du das Boot zum Kentern. Was für ein wunderschöner Ort. Schade, dass er einem privilegierten Kreis vorbehalten ist. Ich wünschte, meine Studenten an der Doncaster Tech hätten auch so was. Ich bin fest davon überzeugt, dass Schönheit der Seele guttut. Nein, Oolie, wirf ihn zurück ins Wasser. Er ist tot.«
    Serge hört nur halb hin.

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