Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
College, die Silver Street hinauf, am Emmanuel College vorbei, quer durch einen Park, dessen Wege vom feuchten Laub rutschig sind, in die geschäftige Mill Road. Hat Otto gesagt, die Wohnung ist über einem Café oder über einem Reisebüro? Es ist fast fünf; der Himmel ist klar und kalt, auf den Bürgersteigen herrscht Hochbetrieb und die Abgase des dichter werdenden Verkehrs steigen in der kühlen Herbstluft auf. Doch irgendwas stimmt nicht. Er hatte doch eine Tüte. Scheiße, er muss sie unter dem Sitz im Kahn vergessen haben. Hoffentlich ist sie nachher noch da.
Um wie viel Uhr macht der Kahnverleih zu? Oder soll er gleich umkehren?
»Wann sind wir da?«, fragt Oolie mit klappernden Zähnen.
»Bald.«
An der Ladenzeile vor der Abzweigung zum Friedhof bleiben sie stehen. Es ist kein Reisebüro zu sehen, aber mehrere Cafés. Serge zieht das Telefon aus der Jeans, doch es ist nass und lässt sich nicht mal anstellen.
Da hält ein Stück vor ihnen ein Taxi und hupt.
Serge geht zum Fahrer und klopft ans Fenster. »Entschuldigung ...«
Der Taxifahrer ignoriert ihn und steigt auf der anderen Seite aus, um dem Paar die Tür zu öffnen, das gerade auf dem Bürgersteig aufgetaucht ist. Die Frau ist hochschwanger und hält sich den Bauch. Der Mann ist Otto.
»Hallo, Otto!« Doro umarmt ihn. »Wie schön, dich wiederzusehen nach all den Jahren. Du siehst blendend aus. Wie groß du geworden bist! Was machst du so?«
»Äh ...« Otto blickt sich um.
Oolie umarmt Molly, die sie noch nie gesehen hat. »Kann ich dein Bebie sehen?«
Serge fängt Ottos Blick auf. »Ich erklär dir alles. Könnten wir nur mal kurz zu euch in die Wohnung ...?«
Otto sieht aus, als wäre er am Rande des Nervenzusammenbruchs. »Ja, Mann, aber wir müssen jetzt sofort ins Krankenhaus, weißt du?«
»Ich dachte, du hättest gesagt, noch sechs Wochen ...«
»Ja, aber Mollys Fruchtblase ist geplatzt.«
»Ich war im Wasser!«, ruft Oolie. »Es war toll. Ein schöner Mann hat mich gerettet!«
»Fahrt lieber los! Wie aufregend!«, ruft Doro, als Otto und Molly sich aus den Umarmungen befreien und ins Taxi steigen. »Alles Gute! Alles Gute!« Sie wirft ihnen mit beiden Händen Küsse nach, als das Taxi abfährt und sich in den Berufsverkehr einfädelt.
»Wir kommen bald wieder und sehen uns das Baby an!«
Clara
Verdufte
Am Sonntagabend ruft Clara bei Doro an und versucht die Wahrheit über Oolies Kleingarten-Sex-Märchen herauszubekommen. Aber Doro lenkt das Gespräch sofort in andere Bahnen, indem sie ewig von einem Besuch in Cambridge erzählt, und erst nach zehn Minuten fällt Clara auf, dass da irgendwas nicht stimmt: Wie kann Doro Serge in Cambridge besuchen, wenn er, wie Babs sagt, in London lebt?
»Cambridge? Ihr wart in Cambridge?«
»Ja, das sage ich doch die ganze Zeit. Hörst du mir denn gar nicht zu, Clara?«
»Wart ihr auch in seinem Zimmer?«
»Nicht ganz. Er hatte es jemandem zur Verfügung gestellt, einem Mädchen. Wir wollten Otto besuchen, aber ...«
»Hm«, sagt Clara und überlegt, dass sie Babs noch mal schreiben und fragen muss, ob sie Ottos Adresse oder Telefonnummer hat. »Und, hat er irgendwas davon gesagt, dass er einen neuen Job hat?«
»Meine Güte, Clara. Was soll denn die inquisitorische Fragerei? Er ist immer noch dabei, seine Dissertation zu Ende zu bringen, Liebling. Ich weiß, es dauert ewig, aber ich glaube, jetzt ist er wirklich bald so weit.«
»Hm.«
Warum ist ihre Mutter in letzter Zeit so schlecht gelaunt? Die Menopause muss sie doch längst hinter sich haben.
Clara könnte ihr jetzt ganz einfach erzählen, was Babs über Serge gesagt hat. Aber sie hält sich zurück. Es wäre gemein und feige und gegen den Geist von Solidarity Hall. Sie will nicht die Petze sein. Und auch wenn Serges Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, nervt, ist er immer noch ihr kleiner Bruder, und sie merkt, dass sie trotz allem immer noch einen seltsamen Beschützerinstinkt ihm gegenüber hat.
Eine uralte Erinnerung blitzt auf: Sie stehen im Garten, Serge in der Schlafanzughose, Otto in seine Häkeldecke gewickelt und Star in ihrer nassen Windel, alle heulend und schluchzend beim Anblick der blutigen, zerfetzten Kadaver ihrer sechsundzwanzig Kaninchen.
»Es war nur der Fuchs«, hat Clara gesagt und versucht, ruhig und erwachsen zu klingen und den Schrei herunterzuschlucken, der aus ihrer Kehle will. »Kommt schon. Wir dürfen nicht zu spät zur Schule kommen.«
Wenn sie an das Kaninchenmassaker denkt, läuft es
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