Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
über«, erklärte er.
Sie hatte keine Ahnung, was er meinte, aber es klang inspirierend.
»Wir werden mit unserer Bildung dem Wohl der Gesellschaft dienen, nicht nur unserem eigenen«, setzte Marcus nach, mit seiner ernsten, tiefen Stimme, von der sie Gänsehaut bekam, »im Bewusstsein, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse zwar eine Determinante sind, aber nur in der letzten Instanz.«
»Wir errichten eine Gesellschaft, in der jeder die Chance hat, sein menschliches Potenzial auszuschöpfen?«, fragte Doro zögernd und hoffte, nicht wegen ihrer Naivität ausgelacht zu werden.
»Weil das Persönliche politisch ist«, hauchte Moira mit der atemlosen Stimme, mit der sie Banalitäten aussprach.
Als sie sich zu fünft – Fred und ein Freund namens Nick Holliday und Marcus und Doro und Moira – in Nicks orangefarbenem VW Käfer auf die Reise nach South Yorkshire gemacht hatten, mussten sie erst mal ihre Enttäuschung herunterschlucken, als sie feststellten, dass die Villa gar nicht direkt an der Zeche stand, sondern abseits an einem idyllischen Feldweg in Richtung Campsall Village, einen knappen Kilometer von dem Kohlebergwerk in Askern entfernt, dessen Förderräder die endlose flache Landschaft aus quadratischen Feldern und struppigen Hecken beherrschten.
Solidarity Hall, wie sie ihr neues Heim tauften, war eine riesige, zugige gotische Backsteinvilla, ein St.-Pancras-Bahnhof im Kleinformat, auf halbem Weg zwischen Pontefract und Doncaster gelegen. Das Gebäude war 1890 für einen Zechenbesitzer erbaut worden, in der Nähe des hübschen Städtchens Askern, das einst wegen seiner Heilquelle berühmt gewesen war, und spiegelte die gigantischen Ambitionen jener Zeit – als Britannia die See beherrschte, als Yorkshires riesiges Kohlerevier den industriellen Aufschwung des Landes befeuerte undEisenbahnen und Schiffe antrieb, die den Handel bis in den letzten Winkel des Weltreichs brachten. 1946, im Eifer der Verstaatlichungen nach dem Krieg, wurde das Gebäude vom National Coal Board übernommen, der staatlichen Bergbaugesellschaft, die dort ihre Verwaltung unterbrachte, und es erhielt einen Anbau für die Wohnung des Grubenleiters. Dann aber wurden neue funktionale Büros direkt bei der Zeche gebaut, und der Grubenleiter war längst in einen gemütlichen modernen Bungalow in Askern umgezogen, so dass die Villa einige Jahre leer gestanden hatte, als die Kommune einzog.
Es roch feucht, die schmalen gotischen Fenster ließen wenig Licht herein und das kotzgrüne Dekor stammte aus den fünfziger Jahren; doch die Villa war in einem besseren Zustand als das Haus in Hampstead. Es gab sechs kalte Schlafzimmer, plus vier auf dem Speicher, wo eines Tages die Kinder ihr Reich haben würden. Sie rissen im Erdgeschoss die Sperrholzwände heraus, die die Verwaltungsbüros unterteilt hatten, so dass zwei gähnende dunkle Eingangshallen zum Vorschein kamen und eine riesige zugige Küche voller verkrusteter Laminat-Oberflächen und gesprungenem Emaille. Und dann war da noch der Anbau, in dem Moira ein ideales Atelier sah, während Marcus und Fred sich dort ein künftiges marxistisches Studienzentrum für die örtliche Gemeinde vorstellten. Doro war entzückt von dem riesigen Garten mit den Fliederbüschen und Apfelbäumen, den verwilderten Gemüsebeeten und wild wuchernden Weinreben, die in den Hecken wuchsen.
In Hampstead war die Althusserianerin stinksauer über den geplanten Umzug und stürmte wütend aus dem Haus, wobei sie Fred des Dilettantismus und der Interpellation von Funktion durch Ideologie bezichtigte. Sie warf so heftig die Haustür hinter sich zu, dass es vom Fenster im oberen Stock Glasscherben auf den Bürgersteig regnete. Woraufhin Nick Holliday, ein kleiner, ernsthafter Mathematik-Doktorand, der zwar nicht zum ursprünglichen Kollektiv gehörte, aber der Besitzer desorangefarbenen VW war, eingeladen wurde, mit einzuziehen. Als Doro Moira gestand, dass sie ihn auf seine streberhafte Art ganz attraktiv fand, mit seinen großen braunen Augen und langen dichten Wimpern, mit denen er durch die schwarze Brille blinzelte, verlor Moira keine Zeit, sofort mit ihm ins Bett zu steigen. So war sie eben.
Außerdem hatte Nick eine Freundin namens Jen mit lauten melodramatischen Allüren, die ab und zu auftauchte; sie behauptete, der Feminismus stamme vom Hexentum ab, und versuchte die Frauen dazu zu überreden, in der Mittsommernacht nackt um ein Feuer im Garten zu tanzen (das Wetter von Yorkshire war ihre Rettung). Es
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