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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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hatte, einenmürrischen Fünfjährigen namens Carl, der unter der Woche bei Megans Mutter in Harworth wohnte, doch am Wochenende oft nach Solidarity Hall kam. Er war ein anhängliches, unsicheres Kind, das sich abseits hielt und aus der Kasse klaute. Sein Spitzname war Knirschkarl, weil er die Gewohnheit hatte, Insekten zwischen den Fingern zu zerknirschen – Spinnen, Fliegen, Schmetterlinge und was er sonst so erwischte. Einmal, als Chris Watt ihn deswegen zurechtwies, spuckte er sie an und nannte sie eine fette Schlampe. Sein Vater wurde nie erwähnt, und als Doro nachfragte, zuckte Megan nur die Schultern und sagte: »Ist halt abgehauen.«
    Chris und Doro versuchten ihr zu erklären, worum es in der Kommune ging, ohne zu predigerhaft zu klingen.
    »Wir versuchen eine Gesellschaft zu errichten, die auf gemeinsamen Zielen beruht, wir teilen, was wir haben, und wir kümmern uns umeinander.«
    Megan starrte sie lange an. »Du meinst, ihr habt kein persönliches Eigentum?«
    »Doch, wir haben Eigentum. Aber wir teilen das Geld, das wir verdienen, und die alltäglichen Dinge wie Bücher und Kleider.«
    »Meine Kleider teile ich mit niemand!«
    Doro sparte es sich, Megan darauf hinzuweisen, dass sie gerade ihre Kleider anhatte.
    »Wir haben uns von der Nachkriegsvision einer Gesellschaft entfernt, in der Wohlstand geteilt wird, und befinden uns heute in einer Gesellschaft, in der es auf der einen Seite grotesk angehäuften persönlichen Reichtum und auf der anderen Seite eine wachsende Unsicherheit gibt.«
    Marcus, der immer noch vom Bildschirm abliest, sieht auf und sucht ihren Blick.
    »Trink deinen Tee, mein Lieber, bevor er kalt wird.«

Serge
    Die Kaninchen
    Serge muss knapp sechs gewesen sein, als er Fibonacci zum ersten Mal begegnete, denn er erinnert sich, dass die Großen in jenem Jahr ständig mit dem Bergarbeiterstreik beschäftigt waren und die Kinder in Solidarity Hall oft sich selbst überließen. Doch eines Tages bauten Nick Holliday und der Italiener im Garten einen Kaninchenkäfig aus Maschendraht für zwei Kaninchen, die die Kinder Verantwortung und rivalitätsfreies Spielen lehren und ihnen die Realität einer nicht-patriarchalischen Gesellschaft vorführen sollten, denn einen Mr. Kaninchen als Familienvorstand gab es nicht.
    Allerdings kamen die Kinder eines Tages von der Schule nach Hause und entdeckten fünf winzige Kaninchenjunge, die sich an ihre Mutter kuschelten, noch blind, fast nackt und unglaublich süß. Sie nahmen sie einzeln heraus und reichten sie herum. Er war dabei, Clara, der lustige kleine Otto und Star, die zu jener Zeit in immer stinkenden Windeln herumwatschelte. (Oolie-Anna war noch nicht geboren.)
    Sie reichten also die kleinen Kaninchen herum und streichelten sie und küssten sie und drückten sie vielleicht ein bisschen zu fest, vor allem Star, die wollte, dass die Kaninchen die Augen aufmachten, und als sie die Jungen am Ende zurück in den Käfig legten, merkten sie, dass sie sich nicht mehr viel bewegten. Eigentlich bewegten sie sich überhaupt nicht mehr. Denn sie waren tot.
    Clara, die die Älteste war und bereits ein Totes-Tier-Trauma hinter sich hatte, sagte, es sei das Beste, sie im Garten zu begraben und niemandem ein Wort davon zu sagen. Und das taten sie. Serge weiß nicht mehr, wo genau sie sie begruben, aber er erinnert sich, wie hart und trocken der Boden war, den sie mit einer Pflanzschaufel bearbeiteten, bis das Loch groß genug war, und er erinnert sich, dass er sich auf das Grab übergeben musste.
    Verblüffenderweise tauchten ein paar Wochen später wie durch Zauberhand wieder Kaninchenjunge auf. Und zwar fünf. Otto war überzeugt, sie seien von den Toten zurückgekehrt, und fing an zu heulen. Serge selbst fürchtete – das sagte er aber keinem –, dass die Kaninchen gar nicht tot gewesen waren. Clara sagte zu Otto, er solle nicht so blöd sein, und erklärte, diesmal würden sie die Kaninchen in Ruhe lassen und gleich zu den Großen gehen. Nick Holliday, der Ottos Vater und Schullehrer war, ergriff die Gelegenheit, um den Kindern einen langen Vortrag über Sex und darüber, wo die Kinder herkommen, zu halten. Das Ganze klang überaus unwahrscheinlich.
    Zwei der neuen Kaninchenjungen starben innerhalb einer Woche, aber drei überlebten. Dann, als sie sich gerade daran gewöhnt hatten, nun fünf Kaninchen zu haben, tauchten wieder sechs Babys auf. Jetzt wurde es den Kindern richtig unheimlich. Es schien, als wären die Kaninchen, die so unaufhaltsam

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