Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
nachrückten, in Wirklichkeit Zombie-Häschen, die auf unerklärliche, übernatürliche Weise mit den kleinen nackten Kadavern zusammenhingen, die sie beerdigt hatten. Die Häschen begannen sich aus dem Käfig auszugraben; wenig später war der ganze Garten voll von Kaninchen und Kaninchenlöchern. Und jeden Monat schienen es mehr zu werden.
»Wir ham sie im Garten eingepflanzt und jetzt wachsen sie«, flüsterte Otto.
Während sich die Kaninchen vervielfachten, wurden im Garten alle Blumen und Gemüse bis an die Wurzeln abgefressen, mit Ausnahme der Stachelbeeren und Sonnenblumen, die zu hoch oder zu widerspenstig waren. Die Kräuter in den Plastikeimern und dem gesprungenen Nachttopf an der Hintertür verschwanden. Nur der Rosmarin, eingepflanzt in eine alte Kloschüssel hoch genug über dem Boden, überlebte. Wo einmal Wiese gewesen war, war jetzt nackte Erde mit wenigen Grasflecken, und überall waren angefaulte Gemüsereste verstreut, denn die Kaninchen mussten natürlich gefüttert werden. Jedem klebten Hasenköttel an den Schuhen, und die kleinen Kotkügelchen wurden in den schmuddeligen Teppich getreten. Manchmal fiel Serge ein seltsamer Geruch im Garten auf.
»Wie viele Kaninchen, glaubst du, kriegen wir noch?«, fragte er Nick Holliday eines Abends vor dem Schlafengehen.
Nick wusste bestimmt, wann die Zeit gekommen war, dass der unheimliche Strom der Zombie-Kaninchen zum Erliegen kam. Serge redete gern mit Nick, weil Nick die Fragen der Kinder immer ernst beantwortete, auch wenn er dabei manchmal ziemlich weit ausholte.
»Es ist eine Fibonacci-Folge«, erklärte Nick. »Die Zahl wird einfach immer größer.«
»Fibber was?«
»Fibonacci war ein italienischer Mathematiker aus dem dreizehnten Jahrhundert. Er hat diese Zahlenfolge entdeckt.«
Serge spürte den unwiderstehlichen Drang, Nick das schreckliche Geheimnis der verbuddelten Kaninchen anzuvertrauen. Nick war ein sanfter Mensch, und bestimmt würde er das eher verzeihen als die anderen Großen.
Doch als Serge gerade erzählen wollte, was an jenem Nachmittag passiert war und dass alles ein schrecklicher Fehler gewesen sei, griff Nick nach einem Blatt Papier und fing zu zeichnen an.
Als die Zahl der Kaninchen im Garten auf sechsundzwanzig stieg (zum Glück waren einige gestorben), beriefen die Großen eine Versammlung ein, um zu diskutieren, was zu tun sei. Marcus schlug vor, sie bei der Suppenküche in Askern abzuliefern, doch die vegetarischen Mitglieder der Kommune fanden diese Idee entsetzlich. Moira Lafferty versuchte sie bei einer Tierhandlung abzugeben, aber die Kaninchen waren dem Besitzer nicht hübsch genug, und er hatte sowieso schon zu viele. Doro stellte am Tor ein Schild auf, auf dem stand: SÜSSE KANINCHENBABYS SUCHEN LIEBEVOLLES ZU HAUSE, und eines Tages kam ein Mann mit einem Lieferwagen und nahm alle Jungen mit.
»Sie sind für arme Kinder, die keine Kaninchen haben«, sagte Doro.
Doch als der Lieferwagen das nächste Mal kam, entdeckte Serge die Aufschrift an der Tür: RANDYS REPTILIEN. Er verriet Doro nichts davon. Ehrlich gesagt wurden ihm die Kaninchen auch immer unheimlicher. Er hängte sich Nicks Diagramm an die Wand neben seinem Bett und studierte esabends vor dem Einschlafen. Irgendwann begriff er, dass die Folge unendlich erweitert werden konnte.
1 1 2 3 5 8 13 21 34 55 89 144 233 377 ...
Dreihundertsiebenundsiebzig Kaninchen. Ein Anflug von Panik scharrte an seiner Brust, als er die neuen Zahlen addierte.
Er und Otto teilten sich ein Zimmer oben auf dem Dachboden, und sie redeten viel miteinander, auch wenn Otto noch keine vier war und viel Unsinn redete, wegen seiner Mutter Jen, die nicht mehr bei ihnen wohnte, aber Otto am Wochenende und in den Ferien mit in ihre Kommune nahm, wo sie den Urschrei praktizierten. Meistens war Otto heiser, wenn er zurückkam.
»Du sitzt in diesem Orgel-Ackermotor«, erklärte er Serge mit krächzender Stimme, »dann schreist du und kriegst Energie.«
»Wie fühlt es sich an?«, fragte Serge.
»Weiß nicht.« Otto lutschte am Daumen und zwirbelte mit einem Finger in seinen weißblonden Engelslocken herum. »Ich glaube, es ist wie die Kaninchen. Die werden wiedergeboren.«
»Aber Kaninchen schreien nicht, Otto.«
»Sie ham unter der Erde geschrien. Wir ham sie nur nicht gehört.«
Eines Nachts schrien die Kaninchen tatsächlich. Es war grauenhaft, markerschütternd, urschreiartig. Ihre Schreie zerrissen seine Träume, ließen ihn aus dem Bett springen und zum Fenster laufen.
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