Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Im Garten war es dunkel, aber der Mond schien gerade hell genug, dass er sehen konnte, wie sich unten etwas bewegte, Schatten, die Schatten jagten.
»Sie machen es«, sagte Otto, der auf Zehenspitzen neben ihm stand, in eine bunte Häkeldecke gewickelt, weil er keinen Pyjama hatte. »So machen sie ihre Babys.« Seine schmalen Schultern bebten.
Serge legte tröstend den Arm um ihn, dann ließ er ihn schnell wieder los – obwohl er erst sechs war, wusste er bereits, dass Jungs so etwas nicht taten.
»Vielleicht sehen wir morgen früh die Babys«, sagte Otto.
»Nein, weil ...« Er ahnte, dass Otto falschlag, aber er konnte nicht erklären, warum. Dann hörten sie noch etwas im Garten – menschliche Stimmen, die laut etwas schrien.
»Hau ab, du Mistkerl!«, das war eine Frau, und dann eine Männerstimme, die rief: »Verdufte!«
Am Morgen gab es keine Babys. Der ganze Garten war mit zerfetzten Fellstücken und verstümmelten Kaninchengliedern übersät. Da war er wieder, der seltsame Geruch, süßlich und stechend, ein bisschen wie Pisse. Jetzt begriff Serge, dass es der Geruch des Todes war. Kein einziges Kaninchen hatte überlebt. Otto wurde ganz still. Star begann zu weinen.
»Es war nur ein Fuchs. Los jetzt, zur Schule«, sagte Clara in ihrem gewohnten Kommandoton.
Es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie alle sicher in die Schule kamen.
Als die Kinder um vier Uhr nach Hause kamen, stellte sich heraus, dass zwei Kaninchen das Massaker überlebt hatten, sie mussten in ein Loch geflohen sein, als der Fuchs angriff. In den folgenden Wochen sahen Serge und Otto täglich nach, ob es neue Junge gab, aber es tauchten nie wieder welche auf.
»Es liegt daran, dass beides Mamis sind«, erklärte Serge, aber Otto beharrte darauf, dass den Kaninchen die Energie ausgegangen sei und sie dringend in den Orgel-Ackermotor müssten.
Serge redete es ihm nicht aus, weil ihn etwas anderes beschäftigte, das Nick gesagt hatte. Das komplizierte Verzweigungsmuster der Kaninchenpaare in dem Diagramm, hatte Nick erklärt, sei dasselbe Muster, das man in der Blüte einer Sonnenblume findet, einem Tannenzapfen oder den Blättern, Zweigen und Ästen eines Baums. Das Muster steckte in jedem Schneckenhausund in der Spirale jeder Galaxie, die sich durch den Weltraum schraubte. Den Goldenen Schnitt, der auf Fibonacci beruhte, fand man in der Musik und in den perfekten Proportionen der klassischen Architektur. Nick redete immer schneller, und seine Augen glänzten wie Marcus’ Augen, wenn er vom Sozialismus redete.
Serge begann, in einem alten Schuhkarton, der unter seinem Bett stand, Schneckenhäuser und Kiefernzapfen zu sammeln, und jeden Abend fügte er seiner Fibonacci-Reihe ein paar neue Zahlen hinzu. An schlechten Tagen redete er mit den Zahlen wie mit Freunden, und erfand Reime, um sie sich besser merken zu können.
In den nächsten Jahren, als Oolie-Anna zur Welt kam, und Megan verschwand, und das Feuer ausbrach, und die Kommune zerfiel, und alle Großen durchdrehten, und Doro sich mit Moira Lafferty in die Haare kriegte, und Jen Otto endgültig abholte, und Nick Holliday auszog, und Clara mit dem Studium anfing, und die Chrises und ihre seltsamen Kinder eines Nachts wieder verschwanden, ging er oft hinauf auf den Dachboden, setzte sich aufs Bett, ordnete seine Schneckenhäuser und Kiefernzapfen zu Mustern an und dachte über das Geheimnis der Fibonacci-Zahlen nach, die Art, wie sie in einer unendlichen Spirale der Ordnung und Harmonie aufeinanderfolgten schienen, die alles miteinander in Zusammenhang setzte wie die Sterne am Himmel.
1 1 2 3 5 8 13 21 34 55 89 144 233 377 610 987 1597 2584 4181 6765 10946 17711 28657 46368 ...
TEIL ZWEI
Familienschnappschüsse
Doro
Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen
Doro hat ein paarmal versucht, Serge zu erreichen, ohne Erfolg, also ruft sie am Sonntagabend stattdessen Clara an, aus keinem besonderen Grund, nur um ein bisschen zu plaudern. Aber was als vollkommen nette Unterhaltung über Pflanzen und Bäume beginnt, schlägt plötzlich in einen Angriff auf ihre Gemüseschnitzdemonstration um. Warum ist Clara so kratzbürstig? Die Pubertätshormone müssten sich doch inzwischen eigentlich beruhigt haben. Ein bisschen peinlich, hat sie gesagt. Was ist daran peinlich? Doro hat nur versucht zu helfen.
»Wenn auch nur eine Familie dadurch mehr Gemüse isst, hat es sich gelohnt!«, schreit sie und legt auf.
Die Stille nach dem Streit hängt in der Küche.
Weitere Kostenlose Bücher