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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Von oben hört sie das Klappern von Marcus’ Tastatur. Das Geräusch vermittelt ihr ein Gefühl von Leere und Nutzlosigkeit. Es ist, als wäre ihre ganze Energie immer in äußere Dinge geflossen – in ihre Beziehungen, ihre Kinder und den Alltag in der Kommune –, und es ist nichts übrig geblieben als Erinnerungen, bestimmt nichts, worüber sie ein Buch schreiben könnte.
    »Möchtest du einen Tee?«, ruft sie die Treppe hinauf.
    Serge war immer friedlicher als Clara, als Baby schon, eingesponnen in seine eigene komische kleine Welt. Ja, wenn er sich mit seinem Computer hier in seinem alten Zimmer installieren würde, weit weg von den Zerstreuungen des Studentenlebens, dann wäre er bestimmt bald mit seiner Dissertation fertig, davonist sie überzeugt. Dieses Projekt am Imperial College in London scheint bloß eine weitere nutzlose Ablenkung zu sein. Außerdem versteht sie nicht, warum Clara darauf beharrt, er sei nicht am Imperial College, sondern am University College – anscheinend hat sie da was durcheinandergebracht. Wenn Clara nur ein bisschen gelassener sein könnte und aufhören würde, jedermanns Leben organisieren zu wollen, dann würde sie bestimmt bald einen toleranten und gutmütigen Partner finden, mit dem sie eine Familie gründen kann. Es wäre so schön, Großmutter zu sein. Und wenn das Wetter heute besser wäre, hätte Doro mit Oolie in den Schrebergarten gehen können, aber Oolie hatte einen Trotzanfall wegen des Regens, und Doro hatte keine Lust, allein zu gehen.
    Wenn, wenn, wenn ...
    Sie setzt Wasser auf und sucht im Radio nach den Nachrichten, aber in ihren Ohren klingt immer noch Claras Schimpftirade nach.
    Clara war das erste Baby in der Kommune, an ihr haben alle ihre Elternkompetenzen ausprobiert, vielleicht ist sie deswegen so dickköpfig geworden. Plötzlich hat Doro ein schlechtes Gewissen wegen Claras Kommunen-Kinderstube, auch wenn die nicht an allem schuld gewesen sein kann, denn Clara war schon von Geburt an ein quengeliger, vorwurfsvoller kleiner Fratz. Sie hat früh laufen gelernt, war früh aus den Windeln heraus und konnte schon mit drei längere Gespräche führen, die auf ihrer Seite nur aus einem Wort bestanden – »Warum?« – und aus ausführlichen, ideologisch korrekten Antworten seitens der Person, die gerade auf sie aufpassen sollte. Ja, es gab gelegentliche Missgeschicke. Einmal hat sie sich die Zähne mit Fungizid-Salbe geputzt, die eine der Frauen im Bad liegengelassen hatte. Das passiert, wenn man vier oder fünf hochmotivierte Co-Eltern hat, die alle ihre eigenen Erfahrungen und Prioritäten in die Erziehung mit einbringen, und keinen, der sich als obersteAutorität versteht. Was zu Claras Selbstverständnis beigetragen haben muss. Schließlich war sie nicht einfach ein Kind, sie war der Prototyp eines neuen Menschengeschlechts – die Fackelträgerin der nicht-bürgerlichen, nicht-privaten, nicht-nuklearen, nicht-monogamen, rivalitätsfreien, gewaltfreien Gesellschaft, die zu schaffen sie ausgezogen waren.
    Armes Kind.
    Als Serge dazukam, und dann Otto und Star und schließlich Oolie, fanden die Erwachsenen ihre Erziehungsideale schon längst ziemlich langweilig und waren zufrieden, wenn sie mit den Kindern einfach Fußball spielen oder fernsehen konnten. Außerdem machte die Kommune selbst so viele Veränderungen durch, dass die idealistischen Prinzipien, mit denen sie vor fünfzehn Jahren begonnen hatte, inzwischen ziemlich ausgeleiert waren.
    1985 waren Chris Watt (weiblich) und Chris Howe (männlich) in Solidarity Hall aufgekreuzt, nach der von großer Bitterkeit begleiteten Zersplitterung der Revolutionären Arbeiterpartei, die einige auf das Scheitern der Bergarbeiterstreiks zurückführten, andere auf finanzielle Verwicklungen mit Libyen und dem Irak, und wieder andere auf die sexuellen Eskapaden des Parteiführers Gerry Healy. (Einmal vertraute Chris Watt Doro an, dass Gerry Healy, wenn auch weniger attraktiv als Chris Howe, ein Tiger im Bett gewesen sei, was Doro einen doppelten Schauer des Grauens über den Rücken jagte.) Die Chrises und ihre zwei blassen, stillen Kinder standen eines Freitagnachmittags vor der Tür, bezogen das Zimmer, das Jen vor kurzem geräumt hatte, und vertilgten im Lauf eines Wochenendes den gesamten Vorrat an Obst, Baked Beans, Bier, Käse und Cornflakes der Kommune, wobei sie über das Fehlen von Fleisch und die historische Niederlage der Arbeiterklasse klagten.
    Alle erwarteten, dass sie am Montag weiterziehen würden,

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