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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Käsekuchen auf Claras Teller. »Bevor du hier sentimental wirst.«
    Sie schenkt zwei Gläser Prosecco ein, und zusammen verputzen sie den ganzen Käsekuchen, die halbe Tarte au Citron und fast die ganze Mousse au Chocolat. Weil sie es sich wert sind.

Serge
    Passwörter
    Offensichtlich hat Chicken eine sentimentale Seite. Als Serge zu Hause auf seinem Laptop endlich den Kakerlaken-Stick öffnet, ist er voller Schnappschüsse der Familie Porter. Ken und Caroline mit ihren Kindern William und Arabella, alle glücklich und strahlend, an Bord der Yacht oder am Pool der Villa im steuerfreien Monaco, wo sie ihren Erstwohnsitz haben, auch wenn sie, soweit Serge weiß, eigentlich in Holland Park leben. (So was weiß er, weil Chicken bei seinem morgendlichen Rundgang einer gelegentlichen kleinen Aufschneiderei nicht widerstehen kann.) Dann ist da eine Nahaufnahme, Chicken im Smoking, den Arm besitzergreifend um Caroline gelegt – eine große Blonde mit funkelnden Juwelen, glänzendem Lippenstift und tiefen traurigen Augen. Sie kommt ihm irgendwie bekannt vor.
    Auf dem nächsten Bild trägt Chicken Tarnkleidung und schwenkt in einem verregneten Wald ein Paintball-Gewehr, zusammen mit vier anderen aus der Chefetage der FATCA – alle haben sie ein irres Grinsen im Gesicht. Ein Ordner mit Golf-Fotos – sein Partner ist ein blondgelockter Apoll, der einen Kopf größer ist als er und ein gelbes Polohemd trägt von ... was für ein Logo ist das? Serge vergrößert das Bild. Gant. Hübsch. Dann ist da eine Reihe von Fotos, auf denen Chicken einem Typ mit Segelohren und einem aufgesetzten Grinsen die Hand schüttelt. Serge sieht genauer hin. Au Backe. Es ist Tony Blair!
    Ein paar Fotos zeigen seine Kinder mit einer Auswahl an elitären Teenager-Accessoires: Cello, Quad, Golfschläger, Pony. Das Mädchen hat Chickens dunkles gutes Aussehen, Grübchen und kleine spitze Zähne. Der Junge ist kleiner und pummeliger, sein Gesicht ist rund – Serge sieht genauer hin –, er hat die gleichen mandelförmigen Augen, den gleichen halboffenen Mund und leicht verlorenen Blick wie Oolie. Eine Welle der Empathie treibt ihn beinahe vom Kurs ab. Wie kann er einen Mann mit einem Down-Kind bescheißen? Er verdrängt das Bild aus seinen Gedanken und öffnet den einzigen Ordner, der keine Fotos enthält, eine altmodische Kalender-App mit Jahrestagen, Geburtstagen (die Spitznamen der Kinder sind megapeinlich – Willywonka und Jinglebell), darunter auch Maroushkas (ach?) und verschiedene andere wichtige Daten.
    Aber wo ist das Wesentliche? Wo ist der Ordner, der die Details zu Chickens FATCA-Konten enthält? Passwörter? Insiderhandel? Nichts als ein Haufen blöder Schnappschüsse. Er ist enttäuscht, und die ganze Vorfreude, die in seinem Kopf gebitzelt hat, löst sich in trübe, entgeisterte Niedergeschlagenheit auf. Das Loch der vierzig Riesen, die er gerade verloren hat, ist immer noch da, fast die Hälfte seines Jahresgehalts, auf die er bald Kreditkartenzinsen von 16 Prozent zahlen muss, und dazu Spread-Betting-Zinsen von 18 Prozent. Scheiße! Er schenkt sich noch ein Glas Barolo ein und isst die verbrannte Kruste der Pizza, die er sich auf dem Heimweg bei Peppe’s geholt hat. Er muss wohl noch eine Hypothek auf seine Wohnung aufnehmen.
    Sein Penthouseapartment ist wohltuend spartanisch eingerichtet. Im Wohnzimmer stehen ein weiches Sofa, ein Sessel und ein niedriger Tisch – mehr nicht. Die Küche ist voller Hightech-Schnickschnack, mit dem er sich nie auseinandergesetzt hat. Warum das Leben kompliziert machen, wenn Peppe’s gleich um die Ecke ist? Er hat ein niedriges Bett aus Hartholz, von dem aus er durchs Fenster die Sterne zählen kann.Es gibt einen begehbaren Kleiderschrank, ein paar Schubladen und ein Regal mit seinen Collegebüchern und Maroushkas Schuhen, die immer noch auf ihre Besitzerin warten.
    Während er sich durch die Fotos geklickt hat, hat der Sturm nachgelassen, und jetzt ist die Nacht draußen vor dem Fenster klar und hell. Er betrachtet London von oben – das Pulsieren des Verkehrs zwischen den reglosen Gebäuden, die schwirrenden, brodelnden Muster von Scheinwerfern, die durch die Dunkelheit schneiden, und darüber, vom Schein der Stadt gedämpft, Galaxien von Sternen, Spiralen aus dem Nichts – Chaos und Ordnung, so weit das Auge reicht. Man könnte sich verlieren dort unten zwischen all dem Dunkel und Licht; man könnte der Entropie entgegentreiben, ohne dem Grauen der Unendlichkeit ausgeliefert zu sein, ohne ganz

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