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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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abgehauen!«
    Sie läuft auf den Flur hinaus und sieht gerade noch, wie ein kleiner rotbrauner Pelzball um die Ecke saust.
    »Da lang! Er ist ausgerissen!«
    Die drei rennen los, aber der Hamster ist schneller. Als sie die Eingangshalle erreichen, bleiben sie nach Luft ringend stehen und sehen sich um. Vom Hamster fehlt jede Spur. Dann geht die Tür des Sekretariats auf und der göttlich-bodenständige Mr. Gorst/Alan kommt heraus.
    »Was ist denn hier los?«
    »Amster auf der Flucht!«, keucht Mr. Philpott.
    »Ruft die Bullen! Schnell!«, quietscht Oolie (sie steht auf Männer in Uniform).
    Mr. Gorst/Alan folgt ihnen in die Halle. Sie schwärmen in verschiedene Richtungen aus.
    »Da ist er! Kleiner Scheißer!«
    Oolie stürzt los und rennt laut schreiend auf den Spielplatz. Dann kommt sie mit roten Wangen und atemlos zurück.
    »Ist abgehauen.«
    Der Hamster ist wie vom Erdboden verschluckt.
    »Du bist aber eine gute Läuferin«, sagt Mr. Gorst/Alan.
    Oolie lacht. »Nicht so schnell wie der kleine Scheißer.«
    »Ich hatte auch mal einen Hamster.« Ein verträumter Ausdruck gleitet über sein Gesicht.
    Clara sieht tief in seine zwinkernden Augen und hört sich selbst mit honigsüßer Stimme raunen: »Wirklich? Erzählen Sie mir mehr davon, Alan.«
    Doch aus ihrem Mund kommt kein Wort.
    Auf dem Rückweg zur Hardwick Avenue ist Oolie ganz aufgeregt. »Der war süß.«
    »Wer?«
    »Der gesagt hat, dass er mal einen Hamster hatte. Ich will auch einen Hamster.«
    Es ist nach fünf, als Clara Oolie zu Hause absetzt. Aber etwas lässt ihr keine Ruhe, als sie nach Sheffield zurückfährt. Etwas, das Oolie gesagt hat, vor der Begegnung mit Mr. Gorst/ Alan, vor der Jagd nach dem flüchtigen Hamster.
    »Ich bin doch jetzt viel älter und nicht mehr so blöd.«
    Clara hat immer gedacht, dass Oolie nie von dem Brand redet, weil sie alles vergessen hat. Doch offensichtlich ist da noch etwas vorhanden in der Rumpelkammer ihrer Erinnerung, und wenn sie jetzt bereit ist, darüber zu reden, ist es vielleicht an der Zeit, die alten Geister auszugraben und ihnen endlich die letzte Ruhe zu gewähren.

Doro
    Die Kreise des Kater Lismus
    Nachdem Clara am Montagabend gegangen ist, widersteht Doro dem Impuls, mit Oolie zu schimpfen, weil sie nicht gleich nach der Arbeit heimgekommen ist, und macht sich stattdessen in der Küche zu schaffen. Fischauflauf mit Kabeljau, Shrimps, geräuchertem Schellfisch und Kartoffeln, überlegt sie, während die braunen Locken der Kartoffelschalen aus dem Schäler in die Spüle fallen.
    Marcus und Oolie haben sich aufs Sofa vor den Fernseher gekuschelt. Zärtlich sieht sie ihnen durch die offene Tür zu und bemerkt, wie ähnlich sich die beiden sind, trotz Oolies Down-Physiognomie. Beide kräuseln beim Lachen auf die gleiche Art die Nase. Das ist ihr noch nie aufgefallen. Es heißt ja, durch das Zusammenleben werden Menschen einander ähnlich, so wie manche Menschen ihren Haustieren ähnlich werden. Manchmal meint Doro eine Spur von Bruno in Oolies Zügen zu erkennen und fragt sich, ob es ihr deswegen so leichtfällt, Oolie zu lieben.
    Wo hört die Biologie auf und wo fängt der Einfluss der Umwelt an? In der Kommune hatten sie versucht, das ganze repressive Konzept der Kernfamilie über Bord zu werfen und sich stattdessen von den Kibbuzim in Israel inspirieren zu lassen. Waren geteilte Werte und Überzeugungen nicht eine viel bessere Basis für Liebe und Elternschaft als der bloße biologische Zufall? Es ist seltsam, aber irgendwie schön, dass Marcusnach all den Jahren heiraten will. Irgendwann müssen sie mit Oolie darüber reden. Oolie hat nie daran gezweifelt – warum auch? –, dass sie genauso ihr Kind ist wie Clara und Serge.
    Hat Marcus sich je gefragt, wo Serge sein Aussehen her hat?, überlegt sie. Weder sie noch Marcus sind klein und dunkel, und die mathematischen Fähigkeiten hat er auch nicht von ihnen geerbt, das steht fest. Serge war immer ein seltsames, eigenbrötlerisches Kind. Dagegen sind Clara und Marcus sich sowohl äußerlich als auch vom Charakter her ähnlich – ernst, klug, unpraktisch. Weswegen Doro hier steht und Kartoffeln schält, und Marcus sich die Nachrichten auf Channel 4 ansieht. Um fair zu sein, Marcus hat gefragt, ob er helfen kann, aber seine Technik des Kartoffelschälens besteht darin, von allen Seiten der Kartoffel dicke Stücke abzuschneiden. Man könnte erwarten, dass jemand, der die Geschichte der Fünften Internationalen verfasst, mit einem Kartoffelschäler

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