Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
umgehen kann, aber anscheinend ist das utopisch.
»Komm und setz dich, Mum!« Oolie klopft neben sich aufs Sofa. »Papa sagt, es geht um die Kreise vom Kater Lismus.« Sie versucht Marcus zu kitzeln. »Kater Lismus!«
»Psst! Ich will da zuhören. Verdufte!« Marcus macht sich los und dreht die Lautstärke auf.
»Ich will mit dir fernsehen!«
»Kollaps einer großen amerikanischen Bank!«, ruft er Doro durch die offene Tür zu. »Krise der globalen Finanzmärkte. Genau wie wir es vorausgesehen haben. Was für ein Anblick – schau dir das an!«
Sie steckt den Kopf durch die Tür und sieht auf der Mattscheibe eine Prozession von Männern in Anzügen, die Pappkartons tragen.
»Was ist da los?«
»Das sind die Angestellten von Lehman Brothers, die mit ihren Sachen das Gebäude räumen.«
»Warum?«
»Es will keiner mehr Geschäfte mit ihnen machen. Sie haben das Geld ihrer Anleger in toxische Papiere gesteckt. Der Kapitalismus frisst seine Kinder.«
»Macht er nicht!«, sagt Oolie.
»Und sie werden bestimmt nicht die Letzten sein. Laut Kondratjews Theorie war schon lange ein Einbruch fällig.«
»Hm.« Doro schneidet die Kartoffeln in Scheiben und verteilt sie auf dem Fisch, bevor sie das Ganze in den Ofen schiebt. Dann setzt sie sich zu ihnen aufs Sofa.
Marcus trinkt in aufgeregten großen Schlucken aus seiner Flasche Lagerbier. »Was mir Angst macht, ist nur, dass eine Wirtschaftskrise wieder die hässliche Fratze des Faschismus auf unsere Straßen holen könnte.«
»Wirklich?«
Doro versucht sich auszumalen, wie Faschismus in Doncaster aussehen würde. Banden von Schwarzhemden, die im Stechschritt vor dem Einkaufszentrum aufmarschieren? Die Vorstellung ist irgendwie aberwitzig.
»Wenn die Menschen sich unsicher fühlen, suchen sie nach einem Sündenbock – Juden, Einwanderer, Zigeuner. So ist es nach der Krise von 1929 gewesen – überall kürzten die Regierungen die öffentlichen Ausgaben. Es herrschte Chaos. Die Große Depression. Dann kam Roosevelt 1933 mit dem New Deal. Er hat Millionen für Infrastruktur ausgegeben. Er hat Arbeit für die Arbeitslosen geschaffen. Er hat die ganze Geschichte umgedreht.«
»Aber wie konnte er so viel ausgeben, wenn das Geld weg war?«
»Er hat es sich geliehen. Man muss ausleihen, wenn man investieren will. Keynes war der Meinung, in England müssten wir das Gleiche tun, aber dann kam der Krieg und hat ihnen das erspart. Krieg ist natürlich der größte vorstellbare Anreiz für öffentliche Ausgaben.«
Marcus ist der einzige Mensch, den sie kennt, der in voll ausformulierten Sätzen spricht, aber seine Klugheit ist manchmal etwas irritierend. Es ist seltsam, dass jemand, der so schlau ist, so ahnungslos sein kann. Der liebe Marcus. Die Hitze, die früher zwischen ihnen geknistert hat, ist längst einer behaglichen Wärme gewichen, die angenehm ist, aber nicht unbedingt lodernd. Ihre Gedanken wandern zu dem Fischauflauf, dessen köstlicher Duft durch die offene Küchentür ins Wohnzimmer zieht.
»Eigentlich hieß es doch, wir seien die Generation am Ende der Geschichte, an der Schwelle eines neuen Zeitalters, in dem die Anhäufung grenzenlosen Reichtums möglich ist«, sagt er. »Aber jetzt kommt die Wahrheit hinter der verführerischen Fassade zum Vorschein.«
»Papa, du hast gefurzt.«
»Nein, habe ich nicht!«
»Schnell! Mach das Fenster auf!«
Oolie wedelt mit der Hand vor ihrer Nase herum. Die Flasche rollt auf den Boden, Bier tropft auf den Teppich. Ich darf nicht vergessen, das aufzuwischen, bevor es zu stinken anfängt, denkt Doro und fragt sich, ob sie am Ende doch wie ihre Mutter wird, ihre kluge, geistreiche Mutter, die sich nach der Geburt ihrer Kinder in die Häuslichkeit ergab.
Wie hat Clara es früher genannt? Gefangen in der Falle des schweinischen Herds?
Als die anderen im Bett sind, kratzt Doro die angebrannten Reste des Fischauflaufs aus der Form und erinnert sich, dass Bruno Salpetti einmal den gleichen Ausdruck verwendet hat wie Marcus heute Abend: »Die verführerische Fassade.«
Serge
Jinglebell
Auch Serge fühlt sich wie in der Falle, als er am Dienstagmorgen im vollen Fahrstuhl steht, Kinn an Kinn mit einem halben Dutzend leer vor sich hinstarrender Trader. Was macht er hier? Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es einen Gott? Wohin bewegen sich die Immobilienpreise in Brasilien? Solche Fragen beschäftigen ihn in letzter Zeit immer mehr. Ihrem Blick nach zu urteilen, haben seine Kollegen auch keine Antworten. Sein ganzes Herz
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