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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Naturkundeecke. Ausnahmsweise hat sie eine kurzärmlige Bluse an, und Clara sieht mit einem leichten Schauder die Narben an ihrem Arm, die sonst immer bedeckt sind.
    »Ich wünschte, du würdest meine Lehrerin sein, Clarie.«
    »Ich bin froh, dass ich es nicht bin. Du wärst mir zu frech.«
    Darüber muss Oolie lachen, wobei sie das kleine runde Kinn in die Luft reckt und die Augen schließt.
    »Nein, wär ich nicht.« Sie zeigt auf ein Bild. »Das ist schön.«
    Es ist die Zeichnung der Klassenstreberin Dana Kuciak vom Sonnenuntergang über der Kathedrale von Doncaster, von einem Foto abgemalt.
    »Worüber möchtest du mit mir reden, Oolie?«
    »Ich will ausziehen und meine eigene Wohnung haben.« Mit einer Schnute setzt sie sich Clara gegenüber und fängt an, mit den Buntstiften herumzuspielen. »Mr. Clemmins sagt, das geht. Aber Mum lässt mich nicht.«
    »Wer ist Mr. Clemmins?«
    »Der Sozialarbeiter, der sich um mich kümmert. Mum kann ihn nicht leiden.«
    Clara zieht die Brauen hoch. Das hört sich interessant an.
    »Warum nicht?«
    »Sie sagt, dass er denkt, dass er alles weiß, aber das stimmt gar nicht.«
    »Hm. Und warum willst du allein leben?«
    »Weil Mum mich zwingt, dass ich im Garten arbeite, und Dad furzt die ganze Zeit.«
    »Aber du weißt, sie haben dich lieb, deshalb wollen sie dich bei sich haben, Oolie.«
    Oolie sieht nicht überzeugt aus. »Ich will nicht im Garten arbeiten. Das ist so langweilig.«
    »Was willst du denn tun?«
    »Ich will Filmer gucken, aber sie lassen mich nicht.«
    Das ist neu. Kann Oolie einem Film überhaupt folgen?
    »Sie lassen dich bestimmt.«
    Es sei denn, Doro hat sich irgendeine neue Regel ausgedacht. In letzter Zeit benimmt sie sich immer unberechenbarer. Das können doch nicht mehr die Wechseljahre sein. Vielleicht die ersten Anfänge von Alzheimer?
    »Was willst du denn sehen, Oolie?«
    »Filmer.«
    »Was für Filme?«
    » Mädchenspiele. Hämmerlos. Hat mir ein Junge bei der Arbeit gegeben.«
    »Ach, du meinst DVDs?«
    »Ja. Filmer.«
    »Oolie, kannst du darüber nicht selbst mit Mum reden?«
    »Nein. Weil immer wenn ich was sagen will, redet sie wieder von du-weißt-schon-was und denkt, dass so was wieder passiert, wenn ich allein wohne, aber das passiert nicht, weil, ich bin doch jetzt viel älter und nicht mehr so blöd.«
    Clara hat ihre Schwester noch nie einen so langen Satz sagen hören. Und sie kann sich nicht erinnern, dass Oolie je zuvor von dem Brand vor langer Zeit gesprochen hat, bei dem sie fast gestorben wäre und der schließlich die Kommune sprengte.
    »Dass was wieder passiert?«, hakt sie behutsam nach.
    Doch Oolie schüttelt den Kopf und sagt keinen Piep mehr.
    Plötzlich wird die Stille von Papierrascheln in der Bücherecke unterbrochen. Ein paar Bücher sind zu Boden gerutscht, und eine unsichtbare Hand blättert durch die Seiten. Beide starren in die Ecke. Dann späht ein brauner pelziger Kopf hinter einer Seite hervor, reißt sie heraus und stopft sie sich in die Backen.
    »Hey ...«, flüstert Clara.
    »Hey!«, quietscht Oolie und rennt hin.
    Doch er ist schnell, dieser Horatio. Bevor Oolie bei ihm ankommt, ist er schon in der anderen Ecke des Klassenraums. Clara versucht ihm den Weg abzuschneiden, aber er huschthinter dem Schrank an der Wand entlang und kommt beim Papierkorb wieder raus.
    »Schnell, Oolie! Da drüben!«
    Oolie ist nicht so flink. Sie stolpert über einen Stuhl, stößt sich den Zeh an und quiekt vor Schmerz. Der Hamster ist verschwunden. Clara geht auf Zehenspitzen zu der Stelle, wo sie ihn zuletzt gesehen hat, und lässt sich mucksmäuschenstill auf alle viere nieder.
    Doch bei Oolie gibt es kein still. »Da! Da!«, brüllt sie. »Der kleine Scheißer!«
    Inzwischen hocken sie beide auf dem Boden. Der Hamster ist in die Bücherecke zurückgeflitzt und starrt sie mit seinen Knopfaugen an. Sie kriechen auf ihn zu. Er lässt sie nicht aus den Augen, während er eine Seite von ›Horrid Henry‹ zerkaut und sich die Papierfetzen in die Backen schiebt. Als sie bis auf einen Meter herangekommen sind, ist er wieder verschwunden. Diesmal hat Clara gesehen, wo er hin ist. Zwischen Regal und Boden ist eine Lücke. Dort huscht er entlang, biegt um die Ecke und ist weg. Oolie rennt ihm nach, Stühle fliegen in alle Richtungen. Der Hamster peilt die Tür an und sie beide verfolgen ihn auf allen vieren, als plötzlich die Tür aufgeht und Mr. Philpott hereinkommt.
    »Was zum ...?«
    »Schnell!«, ruft Clara. »Schnell! Er ist

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