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Die Wesen (German Edition)

Die Wesen (German Edition)

Titel: Die Wesen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Lux
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ich.“
    „O mein Gott“, stöhnte der Professor, „mein Kopf.“
    „Sie müssen sich ausruhen. Das gilt auch für Ärzte.“
    „Ich meine nicht von der Explosion. Dieses grässliche Gerstenbier. Mir brummt vielleicht der Schädel ...“
    Alle versuchten zu löschen und zu retten, was noch zu retten war. Dann brach das Dach ein. Tausende Funken stoben in den dunklen Himmel. Die Jurte brannte bis auf den Boden nieder, ohne dass sie etwas dagegen tun konnten.
    „Das war kein gewöhnlicher Brand“, sagte von Stein. „Tsin weiß das, aber er sagt nichts dazu.“
    Tsin kniete neben seiner Mutter und weinte bitterlich.
    „Ist die alte Frau tot?“
    „Ja. Eine Fraktur des Schädels, dann drang der Splitter in ihr Gehirn ein“, sagte Professor Carlsen, den man zu ihrer Untersuchung herangezogen hatte. „Jetzt kommen erstmal sie dran, Sam. Wir müssen das rußige Ofenstück so schnell wie möglich entfernen. Machen sie nicht so ein unglückliches Gesicht. Wenn wir es nicht sofort machen, folgen sie der alten Damen ins Reich der Geister schneller, als sie ‚Ich will nicht’ sagen können.“
    Er übergoss Sams Bein mit Schnaps. Sam biss vor Schmerz die Zähne zusammen. Thian reichte ihm ein Stück Holz.
    „Mund auf und Zähne drauf, sonst beißen sie sich noch die Zunge ab.“
    Als er mit dem Messer in die Wunde eindrang und schmatzend den Metallsplitter heraushebelte, schrie Sam unter den zusammengepressten Kiefern auf und Schüssli verlor wieder das Bewusstsein.
    Eine Jurte war zum Lazarett umgebaut worden. Professor Carlsen behandelte noch einige Brandwunden bei den Kindern und Laima. Niemandem war in dieser Nacht noch nach Feiern zumute.
     
    Der nächste Tag war schwer. Die Stimmung der Nomaden war getrübt vom Tod der alten Frau. Alle schätzten und achteten sie. Sie brachten ihr den gleichen Respekt wie Tsin entgegen. Sie hatten ihren Körper in eine Decke geschlagen und ihn auf den Boden der Steppe gelegt.
    „Tsin sagt, es war ein gutes Zeichen, dass die Geister sie zum Geisterfest zu sich geholt haben.“
    „Aber es war kein Zufall, Gerold. Das haben sie doch selbst gesagt.“
    „Das spielt für ihn keine Rolle. Er sieht die Dinge, wie sie sind. Ob es nun Zufall war oder nicht, für ihn war es die Hand der Geister. Es macht nach seinem Verständnis der Welt keinen Unterschied. Es ist das Gleiche. Auch die Hand eines andren wird durch die Geister bestimmt. Er sieht es als eine Ehre, die ihr zuteilwurde. Und vielleicht ist das auch die schönere Seite dieser Tragödie.“
    „Das ist doch Heuchelei“, sagte Slinkssons. „Da verübt jemand einen Anschlag auf uns und ihr redet von Geistern und einer schönen Tragödie?“
    Jeder hatte einen Stein gesammelt, den sie einer nach dem anderen auf den eingewickelten Leib der Toten legten und dabei einige Worte murmelte. So wuchs, Stück für Stück, ein kleiner Grabhügel.
    „Wie dem auch sei“, sagte von Stein, „Tsins Frau wird noch einige Tage Totenwache halten, bis der Geist ihrer Schwiegermutter sich endgültig vom Körper getrennt hat. Tsin muss allerdings die gesamte Yarsagumbu-Ernte nach Osiang Lu bringen, einem kleinen Ort hinter dem Pass. Dort wird er sie für alle andren an einen Händler verkaufen. Er wird heute noch mit den Yaks aufbrechen. Er kann uns mitnehmen. Von dort aus könnten wir dann endlich in Richtung Kailash fliegen.“
    „Aber niemand von uns ist richtig gesund“, sagte Professor Carlsen. „Sams Bein sieht nicht gut aus und ihre Hände auch nicht. Bei der dünnen Luft heilen die Wunden schlechter.“
    „Ein Grund mehr, so schnell wie möglich zu einer besseren ärztlichen Versorgung aufzubrechen.“
    Niemand widersprach. Aber es war auch niemand begeistert.
     
    Am Nachmittag wurden die Expeditionsausrüstung und mehrere Fässer mit Yarsagumbu-Raupen auf die Yaks verladen. Sam ebenso, da er nicht im Stande war, selbst längere Strecken zu gehen. Sie verabschiedeten sich und verließen die Nomaden. Professor Carlsens neue Freunde wollten ihn gar nicht gehen lassen, obwohl sie ihre ganze Ernte des Raupenpilzes an ihn verloren hatten. Tsins Sohn drückte jeden von ihnen herzlich und gab ihnen eine Falkenfeder als Glücksbringer mit und Tsins Frau packte ihnen Schnaps und Essen ein, das alle Nomaden für die Reisenden gespendet hatten.
    Der Himmel war weit und klar wie die Steppe selbst. Laima hatte das Gefühl, sich in der Weite der Landschaft zu verlieren. Sie wanderten schweigend dahin. Nur die Glocken der Yaks begleiteten

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