Die Wiedergeburt
mir«, erklärte er. »Je näher wir einander sind, desto stärker wird dieses Empfinden. Ich weiß immer, wo Sie sind, und manchmal spüre ich sogar, in welcher Stimmung Sie sich gerade befinden.«
Obwohl Alexandra ihn weder ausfindig machen noch seine jeweilige Stimmung spüren konnte, ähnelte seine Beschreibung dem, was sie während der vergangenen Wochen empfunden hatte. Die Wärme und das Prickeln … ganz anders als an dem Abend, an dem der Blonde ihr gefolgt war. Dass ausgerechnet zwischen ihr und Lucian eine unsichtbare Verbindung zu bestehen schien, beunruhigte sie zutiefst.
*
Als Lucian bemerkte, wie unbehaglich Alexandra sich fühlte, nahm er seine Hand von ihrem Arm und ging zur Frisierkommode, auf der er zuvor das Tablett abgestellt hatte. Es gab so viele Dinge, die er ihr sagen wollte, doch dafür war jetzt nicht der richtige Augenblick – womöglich würde er niemals kommen.
Einen Moment lang ruhte sein Blick auf dem Tablett, ehe er danach griff und sich zu ihr umwandte. Obwohl es ihm schwerfiel, zwang er sich zu einem Lächeln. »Ich habe Ihnen etwas zu essen gebracht.«
Alexandra setzte sich auf und starrte auf das Tablett in seinen Händen, Ihre Augen wanderten über Kuchen, Brot, Butter, Marmelade, kalten Braten, Wein, Wasser und Milch. Sie konnte ihre Augen kaum von dem vollkommen überladenen Servierbrett lösen.
Lucian stellte es auf dem Nachttisch ab. »Ich wusste nicht, was Sie mögen, deshalb dachte ich, ein wenig Auswahl könne nicht schaden.«
Ihre Mundwinkel zuckten verräterisch, doch das Lachen wollte nicht aus ihr hervorbrechen. Sie war immer so beherrscht, dass Lucian sich unweigerlich fragte, wann sie das letzte Mal wirklich herzlich gelacht hatte. Welchen Grund hätte sie dafür? Den Tod ihrer Familie? All die Dinge, die ihr in ihrem jungen Leben bereits widerfahren waren, konnten einem Menschen das Lachen und die Zuversicht nehmen. Jemand, der nicht über ihren ausgeprägten Willen und ihre innere Stärke verfügte, wäre längst daran zerbrochen. Vielleicht ist sie das auch, doch sie lässt es niemanden merken.
Alexandra griff nach dem Rosinenbrot, brach ein Stück ab und schob es sich in den Mund. Sie wirkte noch immer beunruhigt und schien weniger aus Hunger zu essen als aus dem Wunsch heraus, ihn nicht länger ansehen zu müssen. Er hätte schon früher erkennen können, dass sie das Band zwischen ihnen ebenfalls spürte. Hatte sie nicht schon einmal gewusst, dass er sich in den Schatten verbarg, obwohl er alles getan hatte, nicht gesehen zu werden? Er hatte es auf die scharfen Sinne geschoben, die sie im Laufe der Jahre entwickelt hatte. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, dass sie seine Nähe ebenso gewahrte wie er die ihre.
Als die Stille beinahe erdrückend wurde, fragte er: »Warum wollten Sie fort?«
»Woher …?« Sie ließ das Brot sinken. »Der Blonde?«
Lucian nickte. »Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, deshalb bat ich Robert, während des Tages ein Auge auf Sie zu haben.«
»Sind Sie verrückt!«, fuhr sie ihn an. »Sie können mir doch nicht einfach irgendeinen Kerl … Was hätten Sie gemacht, wenn ich ihn umgebracht hätte?«
»Das hätten Sie nicht getan.« Alexandra war eine Jägerin, doch sie war keine Mörderin. »Wollen Sie mir jetzt sagen, warum Sie die Stadt verlassen wollten?«
»Vladimir weiß von Ihnen.«
Lucian nickte.
»Er wird nicht ruhen, bis er Sie vernichtet hat.«
Ihre Sorge erstaunte Lucian. Alexandra hatte selbst gesehen, was geschah, wenn man ihm eine silberne Klinge ins Herz stieß. Keine Waffe dieser Welt konnte ihm gefährlich werden. Sie wusste das. Dass sie dennoch derart beunruhigt wirkte, konnte nur eines bedeuten: »Er weiß vom Schwarzen Kreuz?«
Alexandra nickte, dann stieß sie einen heftigen Fluch aus. »Der Splitter!«, rief sie. »Er war in meinem Stiefel, und jetzt ist er fort. Haben Sie –«
Ehe sie den Satz vollenden konnte, zog Lucian die Schublade ihres Nachttisches auf und offenbarte den Blick auf einen länglichen Gegenstand, der in ein Stück Tuch gehüllt war. Obwohl das Tuch den Splitter vor seinen Augen verbarg, konnte Lucian ihn spüren .
Alexandra stieß erleichtert die Luft aus. »Gestern Morgen war Gavril bei mir«, sagte sie. »Er stellte viele Fragen – einige davon über das Kreuz. Er wollte, dass ich es ihm gebe, und als ich mich weigerte, ging er.«
»Und dann haben Sie es auseinandergenommen?« Lucians Blick ruhte noch immer auf dem Tuch, unter dem sich die Umrisse des
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