Die Wiedergeburt
sehnlicher, als dass Sie bei mir bleiben.«
Alexandra hätte seinen Wunsch gerne erfüllt, doch wie sollte sie damit leben, jeden Tag in das Gesicht eines Mörders zu blicken? Lucian ist nicht der Mörder! , rief sie sich ins Gedächtnis. Doch dieses Wissen änderte nichts daran, dass er die Züge seines Bruders trug. Obwohl er Jahrzehnte – oder waren es Jahrhunderte? Sie hatte ihn nie danach gefragt – gegen seinen grausamen Bruder angekämpft hatte, würde er doch immer ein Teil des Unendlichen sein. Sie rang um Worte, suchte nach einer Antwort, die ihn nicht verletzen würde, obwohl sie wusste, dass es die nicht gab.
Da legte sich ein Schatten über Lucian. Ein Bild, das sie schon einmal gesehen hatte. War dies ein Traum, der sich wiederholte? Wenn ja, veränderte er sich. Der Schatten hüllte Lucian ein, bis sich seine Züge unter den dunklen Schwingen verflüchtigten. Alexandra spürte noch immer seine Hand auf ihrem Arm und wartete darauf, dass sein sanfter Griff verschwand, sobald der Schatten ihn verschlang. Doch Lucian zuckte nicht einmal zusammen. Er sah sie noch immer erwartungsvoll an. »Möchten Sie mir nicht antworten?«, fragte er nach einer Weile.
Da begriff Alexandra, dass er den Schatten nicht sah. Sie wollte ihn warnen, doch ihr Blick war auf die Dunkelheit hinter Lucian gerichtet. Als sie die Augen zusammenkniff, erkannte sie, dass es nicht einfach ein Schatten war, der über ihm aufragte und ihn verschlang. Es waren die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Eine dunkle Silhouette, deren rechte Hand einen spitzen Gegenstand hielt. Als der Schemen den Arm hob, fiel ein Lichtschimmer auf die goldenen Ornamente und entriss das Schwarze Kreuz der Dunkelheit. Der Warnschrei erstickte in ihrer Kehle, als der Schatten zustieß.
»Lucian!« Alexandra fuhr hoch und riss die Augen auf. Schwer atmend und vollkommen desorientiert sah sie sich um. Dann fiel ihr Blick auf Lucian. Er saß neben ihrem Bett, auf der Kante eines Sessels, und betrachtete sie besorgt. Zögernd, als fürchte er sich, sie zu berühren, legte er ihr eine Hand auf den Arm. »Ich bin hier, Alexandra«, sagte er. »Es ist alles in Ordnung. Sie haben nur schlecht geträumt.«
Während sie sich allmählich beruhigte, wartete sie darauf, dass das tobende Hämmern hinter ihrer Stirn wieder einsetzte. Doch der Schmerz war zu einem dumpfen Pochen abgeklungen. Nicht angenehm, aber erträglich. Darunter mischte sich ein Gefühl, das während der vergangenen Tage und Wochen ihr ständiger Begleiter gewesen war: Jemand beobachtete sie! Vorsichtig wandte sie den Kopf und sah sich im Zimmer um. Lucian hatte die Vorhänge wieder vorgezogen und eine weitere Laterne entzündet. Abgesehen von Lucian und ihr war niemand hier.
Sie hatte gehofft, ihm niemals wieder begegnen zu müssen. Zugleich war sie erleichtert, ihn zu sehen. Obwohl der Schrecken, der sie aus ihrem Albtraum gerissen hatte, allmählich verklang, begann ihr Herz erneut schneller zu schlagen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie sagen sollte. Alles, was sie wusste, war, dass sie bald etwas sagen musste , ehe seine Nähe sie völlig um den Verstand brachte.
Es war Lucian, der das Schweigen brach und sie aus ihrem Dilemma erlöste. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ganz gut, glaube ich.« Wenn da nur nicht dieses ständige Gefühl wäre, nicht allein zu sein – seit ihrem Erwachen stärker als jemals zuvor. »Warum sind Sie nach all den Wochen plötzlich wieder hier?«, fragte sie und hoffte, er möge das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerken.
»Ich war nie fort.«
Alexandra runzelte die Stirn. »Aber …«
Ein Lächeln glitt über seine kantigen Züge und erfüllte seine Augen mit Wärme. »Ich war immer in Ihrer Nähe.«
Da begriff sie es. » Sie sind das!«
»Ich bin was?«
»Sie sind in meinem Verstand!«
Lucian lachte. »Ich bin kein Zauberer, Alexandra.« Doch die Erheiterung wich schlagartig aus seinen Zügen. Verblüfft sah er sie an. »Moment! Sie können mich spüren ?«
»Ich weiß nicht, was es ist«, sagte sie verwirrt, »aber es fühlt sich an, als –«
»Als wäre jemand bei Ihnen?«
Sie nickte. »Ich glaube schon. Seit Wochen habe ich ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Hier ist es sogar noch schlimmer als zuvor.«
»Sie spüren es also auch«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Auch?«
Lucian suchte ihren Blick und hielt ihn fest. In seinen Zügen lag eine Mischung aus Erstaunen und aufrichtiger Freude. »Es ist wie ein Band zwischen Ihnen und
Weitere Kostenlose Bücher