Die Wiedergeburt
Splittern und Scherben hatte er einen der Jäger zur Seite gefegt und war zu Alexandra geeilt. Die Kugeln drangen in sein Fleisch, als er sie schützend an sich presste. Was ihn rettete, war der Umstand, dass die Jäger ihre Waffen lediglich mit normaler Munition geladen hatten. Wären sie aus Silber gewesen, hätte das in der Nähe des Kreuzes sein Ende bedeuten können. Normale Kugeln bereiteten ihm innerhalb der Reichweite des Artefakts größere Schmerzen als sonst, doch sie konnten ihn nicht vernichten. Es dauerte lediglich länger als gewohnt, bis die Kugeln endlich aus seinem Fleisch fielen. Als er Lauriston House erreichte, steckten die Geschosse längst nicht mehr in seinem Rücken und die Wunden hatten sich bereits geschlossen.
Er wusste, dass es Alexandra nur beunruhigen würde, wenn sie erfuhr, dass er Nacht für Nacht vor ihrem Fenster über ihren Schlaf gewacht hatte, deshalb behielt er es für sich. Eines jedoch sollte sie erfahren: »Es war nicht nur die Sorge, die mich an diesem Abend zu Ihnen trieb«, bekannte er. »Offengestanden hatte ich gehofft, Sie von Ihrer Reise nach London abbringen zu können.«
Alexandra legte das Brot zur Seite und sah ihn an. »Warum?« Er erwiderte ihren Blick, ohne zu antworten. Ihr war anzusehen, dass sie zornig sein wollte, doch als sie sprach, klang sie nur traurig. »Ich kann Ihnen Ihre Einsamkeit nicht nehmen, Lucian.«
»Ich weiß.« Er wollte nach ihrer Hand greifen, doch er wusste nicht, ob sie das zulassen würde. Von Anfang an hatte er gespürt, wie sehr ihr seine Nähe zu schaffen machte. Seine Züge würden sie immer daran erinnern, was ihrer Familie zugestoßen war. Er hatte gehofft, dass es ihr mit der Zeit leichterfallen würde. Doch wenn er sie ansah, glaubte er nicht, dass das jemals geschehen würde. In der Kapelle hatte sie seinen Kuss erwidert, voller Gefühl und Leidenschaft. Als ihr jedoch bewusst geworden war, in wessen Umarmung sie sich befand, hatte sie ihn von sich gestoßen. Sie haben sein Gesicht! , hatte sie atemlos gerufen und war vor ihm zurückgewichen. Jedes Mal, wenn ich Sie ansehe, sehe ich ihn vor mir, wie er sich über den Leichnam meiner Mutter beugt. Ihre Worte hatten tief in sein totes Herz geschnitten.
»Wissen Sie, wann ich Sie das erste Mal gesehen habe?«
»Vor etwa vier Wochen?«, vermutete sie. »Ich habe mich im Garten zwischen den Büschen versteckt, als Sie plötzlich auf der Schwelle standen. Mir ist beinahe das Herz stehen geblieben, als ich Sie sah.« Hastig fügte sie hinzu. »Ich dachte, Sie wären Er.«
Wie hätten Sie auch ahnen können, dass ein Monster wie Andrej einen Zwillingsbruder hat. »Ich habe Sie schon viel früher gesehen – ein paar Jahrzehnte, nachdem der Fluch der Alten mich traf.«
»Warten Sie!«, fiel sie ihm ins Wort. »Der Fluch? Das war doch …« Sie runzelte die Stirn. »Wie alt sind Sie, Lucian?«
»Mein Leben endete in meinem sechsundzwanzigsten Sommer, doch meine Existenz währt nun bereits seit über fünfhundert Jahren.«
»Das ist ein Scherz!« Sie schwang die Beine über die Bettkante und setzte sich aufrecht hin. »Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass Sie mich vor einem halben Jahrtausend gesehen haben?«
Doch so war es. Dieselbe Wahrsagerin, die ihm an seinem sechzehnten Geburtstag vorhergesagt hatte, dass ihm einst eine Frau den Tod bringen würde, prophezeite ihm beinahe fünfzig Jahre später – Jahrhunderte, bevor Alexandra überhaupt geboren war –, dass sie in sein Leben treten würde. Damals kannte er ihren Namen noch nicht, nur ihr Gesicht.
»Ich war bereits einige Jahrzehnte ein Vampyr. Die langen Jahre, in der ich meine Blutlust nicht unter Kontrolle hatte und mehr Tier denn Mann war, lagen hinter mir, als ich auf eine Truppe Zigeuner stieß, die am Rande der Straße ihr Lager aufgeschlagen hatte.« Er hatte es umgehen und unbemerkt weiterziehen wollen, als sein Blick auf eine alte Frau am Feuer fiel. Die Seherin von einst. Als könne sie seine Anwesenheit spüren, wandte sie den Kopf in seine Richtung und winkte ihn zu sich.
»Sie führte mich in ihr Zelt«, fuhr Lucian fort, den Unterschlupf der Zigeunerin so deutlich vor Augen, als wäre er erst gestern dort gewesen. »Wir saßen inmitten von Tüchern, Kissen und Kerzen vor einer Feuerschale. Lange Zeit starrte sie schweigend in die Glut, ehe sie den Blick auf mich richtete und sagte: ›Große Veränderungen stehen dir bevor, Lucian Mondragon.‹« Er zuckte die Schultern. »Ich habe
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