Die Wiedergeburt
regte, stieg ihm der schwache Geruch von Whisky in die Nase, nicht viel, doch seine Sinne waren scharf genug, um es zu bemerken. Der Alkohol und die Kopfverletzung waren sichtlich zu viel gewesen. Lucian strich ihr die schwarzen Locken aus der Stirn und warf einen prüfenden Blick auf ihre Schläfe. Äußerlich war die Verletzung nicht weiter schlimm. Er hatte die Wunde mit Alkohol gereinigt, damit sie sich nicht entzündete. Abgesehen davon überdeckte der scharfe Geruch das Aroma ihres Blutes, dem er andernfalls nur schwer hätte widerstehen können.
Lucian seufzte. Zwei Tage nachdem er sie in der Kapelle verlassen hatte, war er noch einmal zu ihrer Pension gekommen, um sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Wie bei seinem ersten Besuch auch, nahm er nicht die Treppe, sondern hatte die Außenmauer zu ihrem Fenster erklommen und sie schlafend vorgefunden. Lange Zeit hatte er auf dem Mauervorsprung vor ihrem Fenster gestanden und sie durch die Scheibe hindurch beobachtet, ohne dass er es über sich gebracht hätte, sie zu wecken. Als sie schließlich erwachte, wollte er sich bemerkbar machen, doch noch ehe er das tun konnte, kam einer der Jäger in den Raum. Zu sehen, wie rührend er sich um Alexandra sorgte, ließ Eifersucht in Lucian aufflammen. Zugleich war er froh, dass sie jemanden hatte, der sich um sie kümmerte. In jener Nacht verließ er sie in dem festen Entschluss, nicht noch einmal in ihr Leben einzudringen.
Dennoch hatte er oft an der Straßenecke vor der Pension gestanden und zu ihrem Fenster hinaufgeblickt. Er wusste, wie schwer es ihr fiel, seine Nähe zu ertragen. Wäre er ein beliebiger Vampyr gewesen, hätte sie womöglich damit umgehen können. Doch er trug das Gesicht des Mannes, der ihr Leben zerstört hatte. Wie konnte er da erwarten, dass sie ihn mochte oder gar liebte?
Wenige Tage später war sie in eine andere Pension gezogen – fort von den Jägern. Lucian wusste, dass sie sehr gut auf sich achtgeben konnte. Dennoch gefiel es ihm nicht, sie allein zu wissen. Vor allem verstand er nicht, warum sie ihre Gefährten verlassen hatte. Er spürte, dass es ihr nicht gut ging. Nacht für Nacht saß er auf dem gegenüberliegenden Dach oder stand auf dem Mauersims vor ihrem Fenster und wachte über ihren von Albträumen durchzogenen Schlaf.
Selbst jetzt schlief sie unruhig, warf immer wieder den Kopf von einer Seite zur anderen und murmelte unverständliche Worte. Lucian strich ihr über die Wange. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er leise. »Niemand wird Ihnen hier etwas tun.«
Lange Zeit saß er an ihrer Seite, ehe er nach unten in die Küche ging. Robert saß auf der Ofenbank, schmauchte eine Pfeife und blätterte im Edinburgh Evening Courant .
Als Lucian ein Holztablett auf den Tisch stellte und begann, es mit Leckereien zu beladen, ließ Robert die Gazette sinken. »Hast du endlich gemerkt, wie widerlich Blut schmeckt?«
Er wusste genau, dass Lucian nichts anderes zu sich nehmen konnte, dennoch nutzte er jede Gelegenheit, ihn mit seinen Ernährungsgewohnheiten aufzuziehen. Das war nicht immer so gewesen. Zu Beginn ihrer Freundschaft hatte es ihm Schwierigkeiten bereitet, zu wissen, wovon Lucian sich ernährte. Lucian nahm seine Mahlzeiten seit jeher unbeobachtet zu sich, doch wann immer er zurückkam, hatte er die Abscheu in den Augen seines Freundes gesehen, begleitet vom Flackern der Angst. Wie oft mochte er sich damals gefragt haben, ob Lucian seinen Blutdurst tatsächlich genug unter Kontrolle hatte, um nicht eines Nachts über ihn herzufallen?
»Wenn Alexandra aufwacht, wird sie hungrig sein«, sagte Lucian und stellte eine Kanne Milch auf das Tablett.
»Ich denke noch immer, dass es keine gute Idee war, sie hierher zu bringen.«
»Du weißt, dass ich darüber nicht mit dir diskutieren werde.« Lucian konnte Roberts Bedenken verstehen, doch er war nicht bereit, Alexandra aufzugeben.
»Diese Frau wird dich umbringen!«, versuchte Robert es dennoch.
Lucian griff nach dem Tablett und ging zur Tür. Auf der Schwelle hielt er noch einmal inne und sagte: »Dann soll es so sein.«
*
Lucians Anblick verfolgte Alexandra, ganz gleich, wohin sie auch ging.
»Um zu schützen, was ich liebe, werde ich zum Monster«, sagte er ruhig und strich über ihren Arm. »Mein Herz schlägt nicht mehr, doch meine Seele ist noch immer mit Leben erfüllt – dem Leben jenes Mannes, der ich einst war. Ich weiß, dass Sie es kaum ertragen können, mich anzusehen, trotzdem wünsche ich mir nichts
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