Die Wiedergeburt
Hand. Ehe er die Waffe auf sie richten konnte, sprang Alexandra vor und schlug ihm mit aller Kraft ihre schwere Tasche gegen den Schädel. Sie glaubte zu hören, wie einer der Eisenbeschläge ihn traf – vielleicht waren es auch nur die Tontöpfe, die aneinanderschlugen. Die Waffe entglitt ihm, als er mit einem unterdrückten Keuchen in die Knie brach. Sie hob seine Pistole auf und steckte sie in den Gürtel. Da zerriss ein Schuss die Stille. Der Knall ließ Alexandra zusammenzucken. »Lucian!«, flüsterte sie und biss sich auf die Lippe, um nicht laut nach ihm zu rufen. Alles in ihr schrie danach, ins Haus zurückzulaufen, um ihm zu Hilfe zu eilen. Ich kann ihm nur auf eine Weise helfen! In der Hoffnung, dass es nicht längst zu spät war, rannte sie los, auf die Straße hinaus, Richtung Netherbow. Als sie sich noch einmal umwandte, sah sie, wie Mihail versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, erneut in die Knie ging und diesmal liegen blieb.
Alexandra rannte die Straße entlang. Wenn Mihail hier war, konnte Gavril nicht weit sein. Es sei denn, Vladimir hat ihm etwas angetan. Seit ihrer Flucht aus dem Kloster war so viel geschehen, dass sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht hatte, welche Strafe er für seinen Verrat erhalten haben mochte. Vielleicht hatte Vladimir ihn aus bloßem Zorn getötet. Nein! Gavril war sein Bruder! Er liebte ihn über alles. Der Mann im Esszimmer ist nicht mehr Vladimir. Womöglich wohnte seinem Körper noch immer irgendwo ein Teil des Jägers inne, doch es war der Unendliche, der die Kontrolle über ihn hatte – und ihn verband nicht das Geringste mit Gavril.
Nach wenigen Metern bog sie in eine Seitengasse ein. Obwohl die Straße sie nur auf Umwegen zum Netherbow führen würde, entschied sie sich bewusst dafür, da sie so den Abstand zum Haus schneller vergrößern konnte. Als sie in die Schatten eintauchte, die zwischen den eng stehenden Häusern lauerten, musste sie die Augen zusammenkneifen, um das Pflaster erkennen zu können. Ein kühler Luftzug ließ sie frösteln. Unwillkürlich umfasste sie den Griff ihrer Tasche fester und beschleunigte ihren Schritt. Sie war noch nicht weit gekommen, als sich plötzlich eine Gestalt aus dem Halbdunkel löste und sie packte. Alexandra wehrte sich gegen den eisernen Griff, der ihren Oberarm umklammert hielt. Ein protestierendes Pochen breitete sich in ihrer Seite aus, trotzdem versuchte sie, sich loszureißen. Sie konnte an nichts anderes als den Schuss denken und daran, dass Lucian erst in Sicherheit sein würde, wenn sie fort war. O Gott, lass ihn noch am Leben sein!
»Halt still! Ich tu dir nichts.«
»Gavril?« Sie hörte auf, sich zu wehren. Da zog er sie zur Seite, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand, und gab ihren Arm frei. Sein linkes Auge war geschwollen, darunter prangte ein dunkler Bluterguss, und seine Lippe war aufgeplatzt, das Blut jedoch mittlerweile verkrustet. Vorsichtig streckte sie die Hand nach seinem Gesicht aus, ohne ihn zu berühren. »War er das?«
»Er war furchtbar zornig.« Gavril zuckte die Schultern. »Aber ich bin sein Bruder. Er hat mir verziehen.«
Einfach so? Wohl kaum. Es musste etwas anderes dahinterstecken, dass der Unendliche ihn nicht getötet hatte. Hofft er, Gavril könne ihn zu mir führen?
Sein Blick ruhte noch immer auf ihr. »Geht es dir gut?«, fragte er leise. »Hast du Schmerzen?« Als sie den Kopf schüttelte, flüsterte er: »Ich bin froh, dass du ihm entkommen bist.«
Es fiel Alexandra schwer, seinen Worten zu folgen. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Lucian zurück. »Ich muss hier weg, Gavril. Schnell!«
Sie dachte schon, er würde sie nicht ziehen lassen, dann jedoch trat er zur Seite. »Halt dich von der Stadt fern. Ich lenke Vladimir und Mihail ab.«
Alexandra wollte an ihm vorbei, hielt aber noch einmal inne. »Vladimir ist tatsächlich nicht mehr er selbst. Er ist vom Unendlichen besessen.«
Selbst hier in den Schatten konnte sie sehen, wie Gavril erbleichte. »Das also ist der Grund seiner Veränderung«, sagte er tonlos. »Dafür wird diese Kreatur bezahlen!«
»Tu nichts Unüberlegtes«, warnte sie ihn. »Wir werden einen Weg finden, Vladimir zu befreien und den Unendlichen ein für allemal zu vernichten.«
Vielleicht würde es ihr gelingen, Gavril auf ihre Seite zu ziehen. Womöglich konnten sie sogar Mihail zur Zusammenarbeit bewegen – wenn es ihnen gelang, ihn lange genug dem Einfluss des Unendlichen zu entziehen. Gemeinsam konnten sie es schaffen,
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