Die Wiederkehr des gefallenen Engels
versuchte Ben, die Situation aufzulockern.
»Mal ehrlich«, sagte Lara bestimmt. »Niemand kennt diesen Typen. Keiner weiß, woher er kommt oder was er so treibt, laut seinen Aussagen nicht einmal er selbst. Als ich ihn beim letzten Mal fragte, was er so mache, antwortete er ›nachdenken‹. Und ich wette mit dir, genau das tut er wirklich. Er sitzt rum, starrt Löcher in die Luft und grübelt über irgendetwas nach. Das ist doch krank!«
»He, jetzt übertreibst du aber. Ich gebe zu, Sam ist ein seltsamer Typ, aber du stellst ihn hin wie einen Geisteskranken.«
»Vielleicht ist er das! Krank im Geist«, sagte Lara. »Er gibt ja selbst zu, sich an nichts zu erinnern. So etwas nennt man in der Fachsprache ›Amnesie‹.«
»Ehrlich …«
»Wie würdest du es denn nennen?«, fragte Lara heftig.
»Keine Ahnung.« Er wirkte verärgert. »Schau ihn dir doch an. Sieht er unglücklich aus? Nein! Klar hat der ’ne Macke, aber du meine Güte, da gibt es ganz andere Leute. Leute, die diesen Planeten bewusst vergiften, Bomben bauen oder Menschen bis zum Tod für sich schuften lassen. Die nennt man nicht verrückt. Nein, die sind erfolgreich.« Ben schüttelte den Kopf. »Das ist pervers. Aber so einen harmlosen Spinner wie Sam nennst du geisteskrank.«
Lara wollte etwas einwenden, aber Ben ließ sie nicht zu Wort kommen. »Vielleicht hat er eine Gedächtnislücke und kann sich nicht an alles erinnern. Möglicherweise ist ihm Schlimmes widerfahren und sein Geist hat sich ’ne Auszeit genommen, soll schon mal vorgekommen sein. ›Selbstschutz‹ nennt man das. Er stellt sich wahrscheinlich irgendwann seinen Problemen, wenn er spürt, dass er die Kraft dazu hat, aber bis dahin lass ich ihn einfach in Ruhe. ES IST SEIN LEBEN und er kann damit machen, was er will.«
»So siehst du das?«
Ben fasste Lara bei den Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Sei mal ehrlich zu dir selbst und blende das Mutter-Theresa-Getue aus. Ist es nicht wirklich so? Ist es nicht sein Leben?«
»Vielleicht braucht er Hilfe.«
»Wenn er Hilfe braucht, wird er danach fragen. Wir sind seine Freunde, er weiß, wir lassen ihn nicht hängen, aber das muss er selbst entscheiden. Du hast kein Recht, ihm diese Entscheidung abzunehmen.«
Lara musste zugeben, dass an Bens Argumenten etwas dran war. Sam war volljährig, ein junger Mann, der die Verantwortung für sein Leben trug. Wenn er keine Entscheidungen treffen wollte, so war das letztendlich auch eine Entscheidung, die man zu akzeptieren hatte.
Manchmal bin ich schon wie meine Mutter.
Sie beugte sich vor und küsste Ben innig. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, sah Ben sie erstaunt an.
»Ich dachte, du bist sauer.«
»Nein, mein kluger Freund. Wenn du recht hast, hast du recht.«
»Dann war das quasi eine Belohnung?«
»So in etwa?«
»Okay, ich will mehr davon.«
Lara lächelte und legte ihre Arme um seinen Hals.
Die Halle hatte eine Reichweite, die jede Vorstellungskraft sprengte. Das Kuppeldach weit über ihren Köpfen wurde von gigantischen Säulen getragen, in deren Oberfläche menschliche Schädel eingegossen waren. In der Luft lag der kalte Geruch der Macht. Absoluter Macht. Dies war Satans Audienzsaal, der Ort, an dem er den gefallenen Engeln begegnete, wenn er sich überhaupt dazu herabließ, mit einem von ihnen zu reden, denn noch immer grollte die Wut in ihm darüber, die Schlacht im Himmel verloren zu haben.
Es fiel kaum Licht in den Saal. Einzelne flackernde Fackeln erschufen tanzende Schatten an den steingrauen Wänden, aber ihr Schein war schwach. Der Boden, auf dem die beiden Krieger knieten, war aus schwarzem Schiefer und mit alten Zeichen verziert. Hier brannten ewige Feuer, deren Kraft direkt aus dem Boden zu kommen schien. Das Feuer war unruhig. Immer wieder zischten daraus lange Flammenzungen hervor, die zur Kuppel hochjagten. Flammenzungen, die glühende Hitze und blendende Helligkeit erschufen.
Die beiden Krieger nahmen das Licht- und Schattenspiel kaum wahr. Sie hielten den Kopf gesenkt. Ihre Furcht vor dem Herrscher der Hölle war unermesslich, gleichzeitig klopften ihre dunklen Herzen voller Freude ob der Tatsache, dass der Fürst sie hatte rufen lassen.
Vor ihnen ragte Satans Thron auf, schwarzes Holz, glänzend und mit blutroten Intarsien geschmückt. Nakamesh starrte auf einen Tropfen Dämonenblut, der von seinem Helm, den er abgenommen und unter den Arm geklemmt hatte, auf den Schieferboden tropfte. Er rührte sich nicht, wagte nicht, zu
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