Die Wiederkehr
ziemlich unangenehme Überraschung erleben. »Dieser Breiteneck«, beendete er seine Gedanken, »was weißt du über ihn?«
Marco hob die Schultern. »Nicht viel«, behauptete er. »Er ist Arzt
und vor etwas mehr als einem Jahr nach Wien gekommen. Eine Zeit
lang hat er durch seine Methoden ziemliches Aufsehen erregt, wie
ich gehört habe, aber dann ist es wieder still um ihn geworden.«
Etwas an der Antwort des Jungen störte Andrej. Es dauerte einen
Moment, bis er begriff, was: Es war nicht das, was er sagte, sondern
die Wahl seiner Worte. Für einen halbwüchsigen Herumtreiber und
Tagedieb drückte er sich sehr gewählt aus. Er nickte. »Mein Freund
und ich konnten seine Spur ohne Mühe bis nach Wien verfolgen,
aber hier suchen wir ihn jetzt schon seit geraumer Zeit. Er scheint
wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Wir hatten schon Angst,
er könnte die Stadt wieder verlassen haben.«
Er behielt Marco unauffällig aber aufmerksam im Auge, als der
Junge antwortete. »Nein, Herr… Andrej. Er ist noch hier. Aber ich
glaube, dass er sich vor etwas fürchtet und sich deshalb versteckt. Er
verlässt sein Haus nur ganz selten, und auch dann nur nachts.«
Andrej runzelte die Stirn. »Mir scheint, du weißt doch etwas mehr
über ihn, als du zugegeben hast. Wenn du so genau weißt, wo er ist,
warum bist du dann nicht schon früher zu uns gekommen, um die
Belohnung einzustreichen?«
»Ich… ich habe erst heute von Euch erfahren«, behauptete Marco.
Andrej spürte, dass das nicht die Wahrheit war.
Nach ein paar Sekunden sprach der Junge weiter. »Manchmal ist es
nicht gut, wenn man zu viel weiß«, sagte er. »Breiteneck ist…« Er
suchte nach Worten. »… er ist unheimlich. Die meisten Leute trauen
sich nur hinter vorgehaltener Hand, über ihn zu reden, aber es gibt
viele Gerüchte, wisst Ihr? Man munkelt, dass er sich bei seinen Forschungen mit finsteren, verbotenen Mächten eingelassen hat. Ich…
ich hatte Angst vor ihm, so wie jeder andere auch. Wenn er erfahren
würde, wer ihn verraten hat, dann wird seine Rache bestimmt
schrecklich sein.«
»Und dennoch hast du dich entschieden, es zu tun.«
Marco hob die Schultern. »Die Zeiten sind schlecht. Es heißt, dass
Wien fallen wird. In einer solchen Situation kann man nicht wählerisch sein. Angst ist eine Sache - Hunger eine andere.« Er grinste
erneut, wurde aber sofort wieder ernst. »Es geht mich nichts an, aber
darf ich fragen, was Ihr von ihm wollt?«
»Du hast Recht«, erwiderte Andrej. »Es geht dich nichts an. Aber
ich habe nichts Böses im Sinn. Ich hoffe, dass er mir auf einige Fragen Antworten geben kann, die mich schon seit einer geraumen Weile beschäftigen.«
Eine Zeit lang gingen sie schweigend nebeneinander her. Die Straßen, durch die sie sich bewegten, gefielen Andrej immer weniger. In
den zurückliegenden Tagen hatte er Wien ein bisschen besser kennen
gelernt, genug wenigstens, um sich nicht mehr zu verirren. Aber es
gab immer noch genügend Stadtteile, in die er bislang noch nie einen
Fuß gesetzt hatte. Dieser hier war einer davon.
Es war eine der Straßen, um die jeder anständige Bewohner einer
Stadt einen großen Bogen gemacht hätte, solange er nicht gerade
lebensmüde war oder sich in dieser Gegend und vor allem mit ihren
Bewohnern nicht auskannte. Die Häuser hier hatten kaum noch etwas
mit denen der wohlhabenden Kaufleute im Zentrum der Stadt gemein. Sie waren nicht viel mehr als heruntergekommene, baufällige
Hütten, viele von ihnen kaum mehr als Ruinen und kaum höher als
ein Stockwerk. Es stank. Unrat und Schmutz lagen überall auf den
Straßen, und Andrejs scharfe Augen entdeckten mehr als nur eine
Ratte, die bei ihrem Näherkommen die Flucht ergriff. Manchmal
glaubte er einen Schatten zu erkennen, der lautlos davonhuschte und
zu groß für den eines Tieres war, und es hätte seiner übermenschlich
scharfen Sinne nicht bedurft, um zu spüren, dass sie beobachtet wurden.
Hier lebten die Ausgestoßenen, die Bettler, die Betrüger, die Halsabschneider und die Mörder, die Tagediebe, die Huren und anderes
Gesindel, dem ein Menschenleben weniger galt als ein Stück Brot.
Andrej kannte Viertel wie diese. Es gab sie in jeder Stadt. Er fürchtete sich nicht - warum auch? -, aber er fühlte sich nicht wohl und mied
sie normalerweise, wo er nur konnte. Er hatte zu oft getötet und den
Tod noch ungleich öfter gesehen, um ihn nicht zu verabscheuen. Und
mit jedem Jahr seines endlosen Lebens, das verstrich,
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