Die Wiederkehr
schmal.
»Marco«, sagte Andrej.
»Marco«, wiederholte Abu Dun. »Welcher Marco?«
Andrej versuchte vergeblich, in seinem Gesicht zu lesen. Abu Duns
verständnisloser Blick konnte echt sein, ebenso gut aber auch gespielt.
»Der Junge, der vergangene Nacht bei Breiteneck war«, erklärte
Andrej.
»Das ist sein Name?«, fragte Abu Dun. »Marco?«
Andrej nickte, und Abu Dun fuhr mit einem durch seine Fesseln
behinderten, angedeuteten Schulterzucken fort: »Was soll mit ihm
sein?«
»Er ist tot«, antwortete Andrej. »Hast du ihn getötet?«
»Ich bringe keine Kinder um«, antwortete Abu Dun. »Obwohl ich
bei dieser kleinen Kröte durchaus bereit gewesen wäre, eine Ausnahme zu machen, und ihm den Hals zu brechen.«
Andrej blieb ruhig. »Man hat ihm nicht den Hals gebrochen.«
»Sondern?«
»Er hatte zwei Bisswunden am Hals«, antwortete Andrej, wobei er
Abu Dun aufmerksam im Auge behielt. »Und von Salms Leibarzt
sagt, er hätte keinen Tropfen Blut mehr im Leib.«
Abu Duns Augen weiteten sich, und Andrej konnte regelrecht sehen, wie unter seiner nachtschwarzen Haut jede Farbe aus seinem
Gesicht wich.
»Er wurde neben dir gefunden«, fuhr er fort.
»Und jetzt glaubst du…«, keuchte Abu Dun, wurde aber sofort von
Andrej unterbrochen.
»Es geht nicht darum, was ich glaube, Abu Dun. Von Salm behauptet, ein Dutzend Zeugen dafür zu haben, dass dein Gesicht und vor
allem deine Lippen voller Blut waren.«
»Und?«, fragte Abu Dun. Er versuchte zu lachen, aber es misslang.
»Er weiß, wer wir sind«, erklärte Andrej.
»Das weiß mittlerweile die ganze Stadt«, antwortete Abu Dun.
Aber Andrej brachte ihn mit einem raschen Kopfschütteln zum
Schweigen. »Du hast mich nicht richtig verstanden«, beharrte er. »Er
weiß, was wir sind.«
Diesmal schwieg Abu Dun eine geraume Weile. Andrej konnte
deutlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Ich verstehe«,
sagte er dann.
»Nein, ich fürchte, du verstehst nicht«, antwortete Andrej.
Abu Dun sah ihn fragend an, und Andrej atmete tief ein, bevor er
mit hörbarer Überwindung fortfuhr: »Hast du es getan, Abu Dun?«
Das Entsetzen, das diese Frage in Abu Dun auslöste, war echt, aber
Andrej konnte nicht sagen, ob dieser Ausdruck der bloßen Ungeheuerlichkeit des Verdachts an sich galt, oder ob der Nubier lediglich
erschrocken war, ertappt worden zu sein.
»Du stellst diese Frage im Ernst, habe ich Recht?«, fragte er
schließlich. Seine Stimme war nahezu ausdruckslos, aber der Blick,
mit dem er Andrej maß, bohrte sich wie ein glühender Dolch in seine
Brust.
Es gelang Andrej nicht, ihm standzuhalten. Dennoch sagte er: »Ja.«
Wieder verging eine schiere Ewigkeit, bevor Abu Dun erwiderte:
»Und ich werde sie dir nicht beantworten, Hexenmeister.«
Vielleicht war das ja schon Antwort genug, dachte Andrej traurig. Vermutlich war es Antwort genug.
»Wie lange sind wir jetzt zusammen, Andrej?«, fragte Abu Dun, als
Andrej beharrlich schwieg. »Ein halbes Menschenleben lang, oder
ein ganzes?«
Ein sehr langes sogar, dachte Andrej. Mehr als ein halbes Jahrhundert. Selbst für Wesen wie sie eine lange Zeit. Er schwieg auch jetzt.
Er erzählte Abu Dun nicht von seiner unheimlichen Begegnung auf
dem Stephansplatz; und schon gar nicht von dem Gesicht unter der
Kapuze, das er zu erkennen geglaubt hatte. Er hätte nicht sagen können warum, aber aus irgendeinem Grund hatte er das sichere Gefühl,
dass es ein Fehler gewesen wäre. »Behandeln sie dich gut?«, fragte
er, nur um überhaupt etwas zu sagen.
Abu Dun starrte ihn einen Herzschlag lang an, als zweifele er ernsthaft an seinem Verstand, aber dann nickte er und antwortete: »Oh,
ich kann nicht klagen. Das Essen ist vielleicht ein wenig zu üppig.
Ich werde Speck ansetzen, wenn ich noch lange hier bleibe. Und die
Mädchen…« Er hob die Schultern. »In meinem Alter ist man allzu
viel Weiblichkeit nicht mehr gewachsen, fürchte ich.«
»Ja, das habe ich vermutlich verdient«, seufzte Andrej. »Aber hab
keine Sorge - ich werde dich hier rausholen. Spätestens heute
Nacht.«
»Nur keine unnötige Eile«, sagte Abu Dun böse. »Ich finde es wirklich gemütlich hier. Ich hatte schon schlimmere Quartiere. Ein Dach
über dem Kopf, eine warme Mahlzeit am Tag und immer nette Gesellschaft… und vor allem keine türkischen Krieger, die mir nach
dem Leben trachten. Was will ich mehr?«
»Abu Dun, ich…«
»Oh, halt, eines fällt mir doch ein«, unterbrach ihn Abu Dun. »Ein
Freund wäre schön. Jemand, dem
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