Die Wiederkehr
flackernde rote Licht der Fackeln ließ ihre Umgebung noch
geisterhafter und unheimlicher erscheinen. Sie waren umgeben von
Toten. Die Wände des aus grobem Ziegel gemauerten Stollens bestanden aus einer ununterbrochenen Aneinanderreihung unterschiedlich großer und tiefer Nischen, in denen Gebeine aufgestapelt waren.
Schädel, Unter- und Oberschenkelknochen, Rippen und Becken,
Schädel und Handknochen - und immer wieder Schädel. Tausende,
zehn-, wenn nicht hunderttausende. Andrej konnte sich eines Schauderns nicht erwehren, während er dem alten Mann folgte. Das rote
Fackellicht weckte in ihm das unheimliche Gefühl, aus den leeren
Augenhöhlen der Totenschädel angestarrt zu werden.
Er atmete unwillkürlich auf, als sie das Ende des Gangs und damit
eine weitere Gittertür erreicht hatten, die von Salm mit demselben
Schlüssel öffnete, mit dem er schon das erste Schloss entriegelt hatte.
Dahinter lag ein weiterer gemauerter Gang, dessen Wände jedoch
nur aus Steinen bestanden, auch nicht aus den Überresten unzähliger
Toter, die man wie Holzscheite übereinander gestapelt hatte.
Sie gingen noch gute hundert Schritte weit, bevor von Salm abermals anhielt und eine weitere, diesmal aus massiven und sichtlich
alten hölzernen Bohlen bestehende Tür öffnete. Dahinter lag kein
weiterer Gang, sondern eine schmale, ausgetretene steinerne Treppe,
die in Schwindel erregendem Winkel in die Tiefe führte. Sie war
kaum einen Meter breit. Als Andrej seine Fackel hob, verlor sich der
rote Schein in einer bodenlosen Tiefe.
»Ich hoffe doch, dass Ihr schwindelfrei seid, Andrej?«, sagte von
Salm belustigt.
Statt zu antworten, schloss Andrej die Augen und lauschte konzentriert. Allein die Echos ihrer Atemzüge und von Salms Stimme verrieten ihm, dass der Abgrund nicht so tief war, wie ihn seine Augen
glauben ließen. Vielleicht vier oder fünf Meter, schätzte er.
Von Salm wartete noch einen Moment auf eine Antwort, dann
schwenkte er seine Fackel mit einer übertriebenen Geste und begann,
die ausgetretenen Stufen mit einer Sicherheit hinabzusteigen, die
Andrej verdeutlichte, wie gut er sich hier auskannte. Ein wirklich
sonderbarer Ort für einen Mann seines Standes, dachte Andrej.
Während er - deutlich vorsichtiger - von Salm in die Tiefe folgte,
versuchte er mittels seiner scharfen Sinne mehr über seine Umgebung zu erfahren. Er hörte das klackende, vielfach gebrochene Echo
ihrer Schritte und Atemzüge und das Knistern des brennenden Holzes, aber auch noch andere, leisere Geräusche, die von Salm vermutlich entgingen: Irgendwo rauschte Wasser, trippelten winzige krallenbewehrte Pfoten über harten Stein, und da waren auch noch weitere, unheimlichere Laute, die er nicht genauer deuten konnte. Es roch
nach fauligem Wasser und Fäkalien, und vor allem nach Tod. Andrej
fragte sich, ob er von Salms Bemerkung von vorhin vielleicht falsch
ausgelegt hatte.
Unten angekommen, gebot von Salm ihm mit einer Geste, zurückzubleiben, und Andrej gehorchte nur zu gern. Die hallenden Echos
verrieten ihm, dass sie sich in einem sehr großen Raum befinden
mussten, der sonderbarerweise zu einer Seite hin offen zu sein
schien.
Von Salm eilte voraus und entzündete rasch hintereinander ein halbes Dutzend weiterer Fackeln, die in geschmiedeten Haltern an der
Wand angebracht waren. Das Mauerwerk darüber war rußgeschwärzt, und in dem heller werdenden, flackernden Licht erkannte
Andrej, dass ihn sein Gehör nicht getäuscht hatte: Der Raum hatte
tatsächlich nur drei Wände. Wo die vierte hätte sein sollen, klaffte
ein gewaltiger Abgrund, an dessen Boden ein schmieriger Strom aus
übel riechenden Abfällen entlangfloss.
»Die Kanalisation?«, fragte er überflüssigerweise.
Von Salm nickte. »Ein Teil davon«, bestätigte er. »Was wisst Ihr
von den Katakomben Wiens, Andrej?«
»Nur, dass es sie gibt«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Und
dass sie sehr groß sind.«
»Dann wisst Ihr fast so viel darüber wie die meisten Menschen, die
in dieser Stadt leben«, seufzte von Salm.
»Aber Ihr habt mich nicht hierher geführt, um mir die Katakomben
zu zeigen?«, vermutete Andrej.
Von Salm trat dichter an den Rand des Abgrunds und hob seine Fackel. Das Licht tanzte über die Oberfläche des Abwasserstroms und
schien mit ihm davongetragen zu werden, bis es sich in einiger Entfernung an einer schmierigen Wand aus unregelmäßig geformten
Bruchsteinen brach, die offenbar nachträglich eingezogen worden
war.
»Hinter
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