Die Wiederkehr
Zustand, der keine Zweifel daran aufkommen ließ, was sie umgebracht hatte.
Er spürte ihre Nähe. Wie schon zuvor war es Andrej nicht möglich,
ihre genaue Zahl zu erraten oder die Richtung, in der sie verborgen in
der Dunkelheit lauerten, aber es waren viele, und sie waren nicht sehr
weit entfernt.
Und sie waren nicht allein.
Thilo schlug mit der linken Hand das Kreuzzeichen und sagte leise
und bitter: »Ich glaube, du musst dir keine Sorgen mehr darüber machen, ob dein Geheimnis gewahrt bleibt oder nicht.« Er deutete nach
links. Andrejs Blick folgte der Geste.
Von Salm stand hoch aufgerichtet und mit starrem Gesicht am Fuße
der Treppe. Ein Soldat lag neben ihm in einer noch frischen Blutlache. Sein Kopf und sein rechter Arm fehlten.
Neben Andrej sog Thilo plötzlich scharf die Luft ein, und als Andrej seinem Blick folgte, fuhr auch er erschrocken zusammen. Sie waren nicht mehr allein. Nur wenige Schritte neben ihnen war eine Gestalt aus den Schatten getreten, keiner der untoten muslimischen Krieger, die sie vorhin attackiert hatten, sondern ein Mann in einer zerrissenen, fleckigen Uniform, dessen Gesicht Andrej kannte. Es war der
Soldat, der vor weniger als einer halben Stunde in Thilos Armen gestorben war.
»Karl?«, hauchte Thilo. »Aber wie kann das…«
Andrejs warnender Schrei kam zu spät. Thilo ließ das Schwert sinken und trat dem Mann entgegen. Und sein ehemaliger Kamerad und
Freund empfing ihn mit ausgebreiteten Armen, umschlang ihn und
riss ihm mit einem einzigen Biss die Kehle heraus.
Andrej enthauptete das Ungeheuer, noch bevor Thilos regloser
Körper zu Boden sank. Hinter ihm erscholl ein Seufzen. Andrej fuhr
mit einer blitzartigen Bewegung herum, das Schwert zum Schlag
bereit erhoben, aber da war nichts mehr, wogegen er die Waffe hätte
wenden können. Der junge Soldat war verschwunden. Sein Schwert
lag auf dem Boden, und ein kurzer, vergänglicher Strudel kräuselte
die Oberfläche des Abwasserstroms.
»Du enttäuschst mich, alter Freund«, sagte eine Stimme hinter ihm.
»Hast du wirklich gedacht, es wäre so leicht?«
Diesmal gab es keinen Zweifel. Als Andrej die Stimme das letzte
Mal gehört hatte, war es die eines Kindes gewesen. Jetzt war es die
eines Mannes. Dennoch erkannte er sie sofort wieder, so, wie er auch
das Gesicht unter der grauen Kapuze sofort und mit unerschütterlicher Gewissheit wieder erkannt hätte. Langsam drehte er sich herum.
Die Gestalt stand unmittelbar hinter von Salm, als hätte die massive
Wand sie ausgespien. Das Gesicht unter der grauen Kapuze lag im
Schatten, sodass nicht einmal Andrejs scharfe Augen es zu erkennen
im Stande waren. Aber das war auch nicht nötig. Er wusste, wem er
gegenüberstand. Er hatte es immer gewusst. »Es ist lange her«, sagte
er leise.
»Sehr lange«, antwortete der andere.
Jetzt - sonderbarerweise tatsächlich erst jetzt, als er ihn sehen konnte - spürte Andrej auch die Nähe eines anderen Unsterblichen. Auch
wenn er sich nicht einmal vorzustellen vermochte, wie der andere es
bewerkstelligte: Es war ihm möglich, seine Gegenwart zu verschleiern.
»Wie lange genau?«, fuhr der Vampyr fort. »Ein Menschenleben?
Oder zwei?« Er lachte leise. »Nein, es müssen wohl schon zwei sein.
Unglaublich, wie schnell doch die Zeit vergeht.«
Metall klirrte, als ein Schwert aus seiner Umhüllung gezogen wurde, dann trat die schlanke Gestalt an von Salm vorbei und schlug mit
der freien Hand die Kapuze zurück.
Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war das eines jungen Mannes, das von schulterlangem, glattem, schwarzem Haar eingerahmt und gut aussehend war. Es hätte symphathisch sein können,
wäre da nicht ein grausamer Zug um den Mund gewesen. In seinen
Augen loderte Hass.
»Du hast dich verändert«, sagte Andrej.
»Was man von dir nicht behaupten kann«, antwortete der Vampyr.
Er kam langsam näher, schien aber keine Eile zu haben. »Du hast
dich kein bisschen verändert. Wüsste ich es nicht besser, könnte ich
beinahe glauben, dass es erst ein paar Tage her ist, seit wir uns das
letzte Mal gesehen haben.« Obwohl er noch ein gutes Dutzend
Schritte von Andrej entfernt war, ließ er sein Schwert spielerisch in
seine Richtung pfeifen. Schon diese kleine Bewegung machte Andrej
klar, dass er einem meisterhaften Schwertkämpfer gegenüberstand.
Nichts anderes hatte er erwartet.
»Wer ist das, Delãny?«, fragte von Salm. »Ihr kennt diesen Mann?
Ist er am Ende gar ein Freund von Euch?«
»Wir waren einmal mehr
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