Die Wiederkehrer
einsteckte, dass wusste Niko ja noch von daheim, auch wenn es schon fast zwei Jahrzehnte her war. Augen zu und durch. Dreihundert. Zweihundertneunundneunzig. Zweihundertachtundneunzig. Zweihundertsiebenundneunzig … Niko begann, rückwärts zu zählen und sich auf die Zahlen zu konzentrieren. Das hatte er als Kind gemacht und es hatte geholfen. Der nächste Schlag traf das Schulterblatt, der nächste das Schienbein.
'Immerhin'
, dachte Niko,
'immerhin noch kein Kopftreffer'.
Er hörte das Ratschen eines Reißverschlusses, dann spürte er etwas Warmes, dass sich klamm an seine Kleidung legte. Erst, als der magere Regen aufhörte, registrierte er den beißenden Gestank. Ach ja, das gehörte natürlich auch dazu! Als Kind war die Pisse von Niko selbst gekommen. Jedes Mal, wenn sich sein Vater an ihm abgearbeitet hatte, hatte Niko vor Furcht in die Hosen gemacht. Nun war es wohl der Skinhead, der Angst hatte, denn warum sollte er hier sonst pissen? Neunundachtzig. Achtundachtzig. Siebenundachtzig … Seit Hundertzweiundsiebzig hatte es keine weiteren Tritte gegeben, aber Niko musste auf Nummer Sicher gehen. Manchmal wartete ein Angreifer nur auf ein Lebenszeichen, um sich weiter auszutoben.
„Niko?“, rief jemand aus einiger Entfernung. Dann wieder Schritte. Schritte, die sich ihm rasch näherten. Scheiße! Instinktiv rollte sich Niko noch mehr zusammen, versuchte, den schmerzenden Rücken breiter zu machen, spannte alle Muskeln an. Die Schritte hielten direkt vor Nikos Kopf. Verdammt! Also
doch
noch einen Tritt gegen den Schädel. Niko presste, in Erwartung des gleich einsetzenden Schmerzes, fest die Zähne aufeinander und die Augen zu.
„Niko“, sagte jemand aus nächster Nähe, dann traf der Schlag die Schulter. Nein! Das war gar kein Schlag. Jemand berührte ihn ganz vorsichtig, sagte noch einmal sanft seinen Namen.
Zwischen den Fingern hindurch, immer noch angespannt, erblickte Niko nur eine Silhouette vor der grellen Sonne.
„Kannst du aufstehen?“, fragte die Gestalt.
„Harry, du bist ein beschissener Schutzengel“, nuschelte Niko und setzte sich vorsichtig auf. Alles tat weh, aber wie es schien war zumindest nichts gebrochen. Damit galt Scheißkopf als umsichtiger, als Nikos Vater.
„Soll ich einen Krankenwagen rufen?“, fragte dieser Jemand und erst jetzt erkannte Niko Bernd. Sein Herz machte einen Sprung und sein Schwanz zuckte. Prima! Das funktionierte also noch.
„Nein, nicht nötig!“ Niko schüttelte den Kopf. „Ein Glas Milch mit Honig, ein bisschen darüber nachdenken warum das nötig war, und alles ist wieder gut!“, ahmte Niko bitter den üblichen Satz seiner Mutter nach, wenn die Zeremonie der Disziplinierung vorüber war.
„Wie bitte?“, fragte Bernd betroffen. Niko versuchte aufzustehen, doch seine Beine waren durch den Sprint erschöpft, durch den Schreck wackelig und durch das dumpfe Taubheitsgefühl, das die Schläge hinterlassen hatten, wollten die Muskeln nicht richtig gehorchen.
„Halt dich an mir fest“, schlug Bernd vor, stützte Niko und lotste ihn langsam zum Haus.
Sie sprachen kein Wort miteinander. Niko humpelte die Treppen hoch und protestierte auch nicht, als Bernd ihn mit in seine Wohnung nahm. Wortlos, als hätten sie eine stille Übereinkunft getroffen, brachte Bernd Niko ins Badezimmer, verließ ihn kurz, um ein sauberes Shirt, einen Slip und Hosen von sich selbst bereitzulegen und half Niko dabei, sich auszuziehen. Kurz entschlossen, entkleidete sich auch Bernd, stieg mit Niko unter die Dusche, drehte die Brause auf und stellte eine angenehme Temperatur ein. Behutsam legte er die Arme um Niko, hielt ihn fest, streichelte ganz sanft über dessen Kopf und ließ das Wasser auf den geschundenen Körper niederprasseln. Das alles passierte in vollkommenem Schweigen und in stiller Harmonie. Niko schmiegte sich an Bernd, klammerte sich an ihm fest, spürte die wohlige Wärme und die schützende Nähe. Bernd hielt ihn sachte, streichelte ihn gelegentlich ganz vorsichtig, forderte nichts. Er war einfach nur da und drückte Niko gelegentlich einen Kuss auf die Schläfe oder den Hals. So verging eine schiere Ewigkeit, bis Niko der Meinung war, es wäre genug. Auch da sagte Bernd nichts, wickelte Niko in ein riesiges Frotteetuch und legte selbst einen Bademantel an.
Ohne die vorbereiteten Sachen anzuziehen, nur das Tuch um den Körper gewickelt, tappte Niko aus dem Badezimmer, steuerte das bequeme Sofa an und sank erschöpft darauf. Bernd machte einen kurzen
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