Die Wiege des Windes
wann er morgen nach Kiel abfahren konnte. Seinen Wagen zu benutzen, erschien ihm angesichts der ewigen Pannen ein zu großes Risiko. Er verwarf den Gedanken, bei Grit anzurufen, damit sie auch wirklich zu Hause war. Bestimmt würde sie ihm die Anreise verbieten, vielleicht sogar extra das Haus verlassen.
Trevisan griff nach dem roten Aktenordner auf seinem Schreibtisch. Az.: 377-97-11-tr, Tötungsdelikt z. N. Larsen, Björn, Wilhelmshaven, stand auf dem Aktendeckel. Björn Larsen war zu einer Nummer geworden. Zu der letzten Nummer des Kommissariats im Jahr 1997. Und Trevisan hatte nicht viel mehr als vage Vermutungen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, jemand anderem die Leitung des 1. Fachkommissariats zu übertragen. Er fühlte sich hilflos. Hilflos als Polizist, aber genauso als verlassener Ehemann und vor allem als Vater. Angestrengt las er die Aufzeichnungen. Viel war es nicht. Ein Abschnitt, der sich mit Larsens Leben befasste, ein weiteres Kapitel enthielt den Spurensicherungsbericht und die Lichtbildmappe, und wiederum ein weiterer Absatz beinhaltete den Obduktionsbericht. Ansonsten gab es nur handschriftliche Notizen. Den Namen des Holländers hatte er bereits durchgestrichen. Nun würde er zumindest für die nächsten Wochen einen weiteren Namen vergessen können: Töngen. Trevisan wählte die Rufnummer des Auricher Kollegen, der den Überfall auf Töngen zu bearbeiten hatte. Es klingelte eine Weile, bis sich der Kripobeamte meldete. Es gab nur wenig zu berichten. Töngen lag im Koma, es bestand nach wie vor Lebensgefahr. Nicht auszuschließen, dass der Schäfer von Langeoog niemals wieder richtig gesund werden würde.
Verwertbare Fingerabdrücke gab es in Töngens Haus nicht. Lediglich zwei Geschosse waren aufgefunden worden. Eines steckte im Rahmen der Hintertür, eine zweites hatte sich oberhalb der Haustür in einen Dachbalken gebohrt. Beide hatten das Kaliber 9 mm. Trotzdem waren sie verschieden. Ein drittes konnte nicht aufgefunden werden. Bestimmt die Kugel, die Trevisan nur knapp verfehlt hatte und in der Weite des angrenzenden Wiesengeländes verschwunden war. Auch das Phantombild hatte bislang keine Ergebnisse erbracht. Die überregionale Veröffentlichung stand noch aus.
Erneut blickte Trevisan zur Uhr. Johannes war immer noch nicht aufgetaucht. Langsam begann sich Trevisan zu sorgen. Vielleicht hatte er ihn einfach überhört? Er erhob sich und schaute hinüber in Hagemanns Büro. Es war leer. Er ging zurück und griff zum Telefon. Endlos klingelte der Apparat, doch niemand hob ab. Trevisan überlegte, ob er zu ihm hinausfahren sollte, doch er beschloss, noch eine halbe Stunde zu warten.
*
Der Schlüssel des Dienstwagens hing im Konferenzraum am Haken neben der Tür. Trevisan nahm ihn mit und warf seinen Mantel über den Arm. Dann ging er den Flur entlang. Noch bevor er an der Glastür ankam, wurde sie aufgestoßen und Johannes Hagemann trat ein.
»Johannes! Gott sei Dank …«
»Moin«, sagte Hagemann trocken. Dann begriff er die Situation. »Oh, nein, ich bin noch nicht tot. Es kann sich doch nicht jeder mitten in der Arbeit davonschleichen. Ich lass dich schon nicht im Stich.«
»Es ist spät, ich … ich dachte …«, stammelte Trevisan.
»Ich weiß, was du dachtest, aber ich sagte dir doch, ich kenne jemanden bei der Lloyd. Es sind drei Schiffe mit dem Namen Sigtuna registriert. Allesamt gehören schwedischen Eignern. Eins davon ist eine Luxusyacht, das zweite ein Forschungsschiff und das dritte ein Frachter. Du hast nicht zufällig die Kennung?«
»Ich habe nur den Namen«, antwortete Trevisan. »Aber es war keine Yacht und es war auch kein Frachtschiff.«
»Dann kann es nur das Forschungsschiff gewesen sein. Ein Kreuzer. Das ist es. Und wem gehört es?«
Johannes Hagemann zog einen Packen Papier aus seiner Manteltasche. »Eigentlich dürfte ich das hier gar nicht haben. Es verstößt gegen Datenschutzbestimmungen. Man braucht schon einen triftigen Grund, die Daten eines Schiffes von der Versicherung zu erfragen.«
»Wie wäre es mit Mordversuch?«, antwortete Trevisan.
Johannes lachte. »Ich denke, das würde genügen.« Er suchte in den Papieren nach den entsprechenden Daten, ging einen Schritt zur Seite und hob ein Blatt gegen das Licht. »Also, da haben wir … Moment, ach ja, Sigtuna, leichter Kreuzer, 14 Mann Besatzung, Aufgabengebiet Meeresforschung und Kartographie, gehört … gehört einem Ingenieurbüro in Stockholm. Es heißt – verdammt, schreiben die
Weitere Kostenlose Bücher