Die Wiege des Windes
für den Jungen getan, was er tun konnte. Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um, hieß ein altes Sprichwort und Sprichwörter spiegelten oft das Leben wieder. Dennoch konnte er dieses Kapitel nicht so einfach schließen. Vielleicht würde es ihm gelingen, wenn er den wahren Hintergrund für Larsens Tod erfahren könnte. Und da war immer noch Rike. Seit fünf Tagen hatte er nichts mehr von ihr gehört. Vielleicht war es auch besser so. Er dachte an seine verwüstete Wohnung. Noch einmal wollte er so etwas nicht erleben.
Er hob den Eimer mit dem Schmutzwasser und schüttete es über Bord.
Erneut fasste er Wasser. Noch bevor er den Eimer an Deck gehievt hatte, klingelte das Handy. Er griff in die Tasche seines Overalls und meldete sich.
»Spreche ich mit Hilko Corde?«
»Corde, Kutterfahrten und Ausflüge, selbst und in Person«, antwortete er freundlich. Der Anrufer hatte einen bayrischen Dialekt. Die Nordsee wurde bei den Touristen auch im Winter immer beliebter.
»Wir würden gerne eine kleine Tour hinaus nach Helgoland unternehmen«, sagte der Anrufer.
Corde lächelte. »Und wann?«
»Morgen.«
Sein Grinsen verschwand aus dem Gesicht. Ausgerechnet morgen. Er hatte Ahlsen versprochen, den kleinen Fährverkehr nach Norderney zu übernehmen.
»Leider bin ich da schon ausgebucht.« Corde zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen. »Da müssen Sie es anderswo probieren. Hansen in Norddeich oder Lünkebohn in Bensersiel.«
»Ehrlich gesagt, Sie wurden uns empfohlen. Ginge es auch übermorgen?«
Das Lächeln kehrte zurück. »Wenn das Wetter mitmacht … Wie viele Personen?«
»Wir sind drei.«
Heimlich rechnete Corde schon seinen Verdienst aus. Er schaute auf den Tidekalender. »Wir müssten um neun Uhr aufbrechen und spätestens gegen 16.00 Uhr zurück sein. Sie hätten maximal eineinhalb Stunden auf der Insel.«
»Das ist gut so«, bekam er zur Antwort.
»Insgesamt müsste ich fünfhundert Mark berechnen«, sagte er vorsichtig und war insgeheim bereit, auf vierhundertfünfzig herunterzugehen, sollte der Anrufer mit dem Feilschen beginnen.
»Das ist in Ordnung, also übermorgen um neun. Wir sind zur Stelle.«
Als Corde das Handy zurück in seine Tasche steckte, lief ein breites Grinsen über sein Gesicht. Das neue Jahr fing auf alle Fälle gut an. So konnte es ruhig weitergehen.
28
Kriminaloberrat Kirner hatte den ganzen Vormittag verbummelt. Er hatte mit seinem Sohn in Marburg telefoniert. Das zweite Staatsexamen stand bevor und der Junge bedurfte, wie beim letzten Mal, längeren Zuspruchs. Schon oft hatte es Phasen in seinem Studium gegeben, wo er einfach alles hinschmeißen wollte. Dann war der Vater gefordert. Sie hatten über zwei Stunden miteinander geredet. Privat, denn Kirner konnte Privates und Dienstliches gut trennen. Die verlorenen Stunden hatte er bereits vorgearbeitet, denn Polizeibeamte an der Basis, im operativen Bereich – und so sah er sich trotz seines Ranges – kannten keine Feiertage, keine Sonntage und auch keinen Dienstschluss, wenn sie mitten in Ermittlungen steckten. Und nicht alle Überstunden wurden aufgeschrieben. So machte er sich deswegen keinen Kopf. Lediglich über die Tatsache, dass seine Ermittlungen immer mehr ins Stocken gerieten, sorgte er sich langsam.
Er ging durch die menschenleeren Gänge des Kriminalamtes, vorbei an verwaisten Büros. Die Stille der schier endlosen neonlichtdurchfluteten Flure hatten etwas Bedrückendes. Sie ähnelten sehr seinem mentalen Zustand. Auch er fühlte sich leer, fast ein wenig verbraucht und fragte sich, ob er die vier alten Urlaubstage nicht doch besser hätte nehmen sollen. Mehr war nach der Studienreise nach Ägypten im Herbst nicht übrig geblieben.
Seit er die magische Grenze von fünfzig Jahren überschritten hatte, fiel es ihm immer schwerer, den Tag mit dem notwendigen Engagement und der erforderlichen Energie anzugehen. In seiner Arbeit, die ihm einmal sehr großen Spaß gemacht hatte, die er manchmal als Spiel des Verstandes ansah, als einen Zweikampf mit der dunklen Seite, hatten Automatismen und Routinen Einzug gehalten, die seine Kreativität immer mehr beschnitten. Vielleicht war es wirklich besser, jüngeren Beamten das Feld zu überlassen und sich an einen Schreibtisch zurückzuziehen. Ein Mann wie Trevisan, der noch Ideen hatte, der die Herausforderung annahm, war vielleicht genau der Richtige.
Am Kaffeeautomaten traf er Köster.
»Die Kollegen aus Riga haben diesen Autohändler tatsächlich
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