Die wilde Gärtnerin - Roman
allein gegen sie ausrichten? »Von mir aus bring deine Möbel zu mir, dann kannst du bei dir ein Matratzenlager auslegen. Aber ich brauche meine Rückzugsmöglichkeit.« Schneewittchen lässt den Kopf in ihr Tellerchen hängen. »Toni, du kannst sowieso nicht alle bei dir schlafen lassen. Wer weiß, ob die das überhaupt wollen? Vielleicht bist du die Einzige, die auf Schulskikurs-Flair steht? Außerdem fehlen dir dazu die Stockbetten.« Mit Einsicht und Witz war Toni noch nie beizukommen. Ihr Gemüt hat für Hindernisse dieses Kalibers eine Knautschzone, von der selbst skandinavische Autohersteller träumen können.
»Und im Hof zelten?«
»Sonst noch was? Damit mir die Blumenwiese komplett erstickt wird? Nie und nimmer!« Müsste eigentlich wegen mangelnder Rücksicht auf meine Person gekränkt sein. Aber Tonis ungestümes Wesen lässt mir keine Zeit für Verstimmungen. »Stockbetten«, ruft sie, »sind die teuer?«
Ernte nach dem Mittagessen Kräuter, binde sie zu kleinen Sträußen und hänge sie über eine Schnur in das Klohaus. Dort können sie am besten trocknen und frischen nebenbei das Aroma auf.
Starte am späten Nachmittag meine Tour durch das Haus. Bin überrascht, wie viele meiner Mieterinnen und Mieter um diese Uhrzeit zuhause sind. Dachte, die würden alle bis in den Abend hinein arbeiten. Wer sich nicht sträubt, bekommt von mir ein Kräuterpflänzchen. Die meisten freuen sich. Überlege, dass ich sie mittlerweile sechs Jahre kenne → vielleicht laufen die Gespräche deshalb so unproblematisch? Bin wieder einmal froh über Leos gute Auswahl. Grund meines Besuchs ist unser Reparaturfond. Sage achtmal den gleichen Spruch auf: »Hast du nächste Woche Zeit? Wir sollten uns zusammensetzen. Es ist zu viel Geld im Fond.« Da weiten sich die Augenpaare und freudiges Schmunzeln zieht auf. »Zu viel Geld? Das hört man gerne«, lauten die Reaktionen. »Ja, zu viel Geld. Das sollte nicht auf der Bank liegen. Lass uns besprechen, was wir damit machen wollen. Okay? Passt es dir nächsten Donnerstag um 19 Uhr?« Niemand kommt mit konkreten Wünschen. Anscheinend sind alle im Haus recht zufrieden. Was mich natürlich freut. Erfahre Geschichten über Kinder, die ihre Milchzähne verlieren, dafür aber ein gutes Abschlusszeugnis bekommen. Weiß jetzt, wer wohin auf Urlaub fährt und welche Berufswechsel für den Herbst geplant sind. Werde auf Tonis Sommerfestival angesprochen → sie hat alle vom Haus dazu eingeladen. Die Reaktionen sind durchwegs positiv. Mal schauen, was die sagen werden, wenn die Shantis nach Sonnenuntergang ihre Trommeln auspacken.
10.6.
Ziehe meine Jalousien hinauf. Mir ist egal, ob Berta mich sieht oder ich sie. Aber sie ist ohnehin nicht drüben. Wahrscheinlich zieht sie sich in einem nahe gelegenen Waldstück gerade ein Wildschweinfell über oder klopft in einer Livree an eine Hoteltür. Vielleicht setzt sie sich aber wieder eine Chauffeursmütze auf? Muss an die ungeheuerliche Entführungsgeschichte denken, die sie mir an ihrem »Abend der Bekenntnisse« aufgetischt hat. Wie sie auf ihrem Sessel schaukelt, ihren Whiskey trinkt und ihre Motive durch ein wortreiches Gebilde aus Vernunft zu legitimieren sucht:
»Die Entmachteten und die Mächtigen sind trotz scheinbar unüberwindbarer Differenzen auf untrennbare Weise miteinander verbunden. Dabei gibt es eigentlich keine sozialen Höhenunterschiede, sondern nur Abhängigkeiten. Und zwar hängen die Mächtigen von den Machtlosen ab, nur nehmen sie ihre Unterlegenheit nicht wahr, sie negieren sie einfach. Wahrscheinlich laufen meine Aktionen deshalb so reibungslos, weil Mächtige gar nicht auf die Idee kommen, ihnen könnte Gefahr von ihren Domestiken drohen. Anders kann ich es mir nicht erklären. Du solltest nicht glauben, wie einfach es war, als Ersatz für Teyssens Fahrer einzuspringen. Seit über einem Jahr war ich im Personalpool des Energiekonzerns E.ON als Privatchauffeur gelistet. Ich hab nur abwarten müssen, bis der Fahrer des Vorstandsvorsitzenden krank wurde und ich statt ihm den Dienstwagen lenken durfte. Ich glaube, Teyssen hat nicht einmal gemerkt, dass eine Aushilfe hinter dem Lenkrad sitzt. Ein Diener schaut doch aus wie der andere, wozu sich die Mühe machen, sie zu betrachten? Dabei war ich äußerst sehenswert: grauer Anzug, Hemd bis oben zugeknöpft, rot melierte Krawatte, dunkle Kurzhaar-Perücke mit Seitenscheitel, Schnurrbart. Selbst bei der obligatorischen goldenen Armbanduhr und der Herrenhandtasche hab ich
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