Die wilde Gärtnerin - Roman
Bewegung zog Hannelore Strabeck ihre Tochter näher an sich heran. Sie wusste, wer diese Frau war, zumindest hatte sie einiges über sie gehört. »Die Wahnsinnige lässt ihre Tochter am ersten Schultag allein. Unverantwortlich!«, zischte sie. Antonia schaute an ihrer Schultüte vorbei zu ihrer Mutter, in deren Gesicht sie eine Mischung aus tiefer Verachtung und neidvoller Bewunderung entdeckte.
»Bist du die Tochter der Irren?«
Helena sah von ihrem Platz in der ersten Reihe auf. Ein zierliches, dunkelhaariges Mädchen mit grünem Samtkleid und dazupassender Schleife im Haar stand vor ihr. Helena wusste, dass über ihre Mutter geredet wurde. Auch in einem Stadtteil mit 25.000 Bewohnern konnte eine rothaarige Frau, die in ungewöhnlich bunten Kleidern auf einem in Regenbogenfarben bemalten Fahrrad durch die Siedlung fuhr, nicht unverborgen bleiben. Außerdem hatte Hildes Frauengruppe, seitdem ihr Buch »Frau sein mit allen Sinnen« mehrere Wochen die Sachbuch-Bestsellerlisten anführte, regen Zulauf erhalten. »Ja, ich bin die Tochter der Irren«, sagte Helen.
»Mit dir darf ich nicht reden«, erklärte das Mädchen.
»Gut.«
»Darf ich mich neben dich setzen?«, fragte das Mädchen, das sich scheinbar wenig um die über sie verhängten Verbote scherte.
»Gerne.« Helena rückte demonstrativ zur Seite, um ihr genügend Raum hinter dem Schultisch zu geben. Das Mädchen legte ihre Schultüte, die größer als sie selbst war, auf den Tisch. Ihre rosa Schultasche mit verstärkten Hartplastikecken stellte sie auf den Boden. »Ein Barbiemädchen«, dachte Helena, »ein Opfer westlicher Marketingstrategen, das sich heillosem Dekor hingibt.« Helena war trotz Ledas Indoktrinierung von diesem samtenen Mädchen angetan, das gegen ihr elterliches Dogma aufbegehrte, nur um Kontakt zu ihr zu suchen.
»Das vorhin war deine Mama, oder? Warum hat sie dich nicht begleitet? Meine Mama meint, wenigstens am ersten Schultag sollte eine Mutter ihr Kind begleiten.«
»Weil ich alleine gehen kann. Du doch auch, oder? Wir haben zwei gesunde Beine, die uns tragen, wohin wir wollen«, verteidigte Helena ihre Mutter vor diesem Barbiepuppen-Mädchen. In Wahrheit hätte sie heute Morgen die Begleitung ihrer Mutter nicht ausgeschlagen. Obwohl Leda schon Tage vorher den Schulweg mit ihr abgegangen war. Sie hatte Helena auf Gefahren hingewiesen und mehrere Notfallszenarien durchgespielt. Helena wusste, wo sie wie bei wem um Hilfe fragen konnte, wenn sie sich unsicher fühlen sollte. Aber dank der mentalen Kräftigung kam es zu keinerlei Unsicherheit. Als Helena in der Kolonne der Erstklässlerinnen dann doch den leisen Wunsch verspürte, ihre Mutter an der Hand zu haben, war sie gleichzeitig auch stolz auf sich, als Einzige keine Unterstützung nötig zu haben.
Antonia Strabeck war von Helenas selbstbewusster Äußerung fasziniert. Sie betrachtete die Tochter der Irren von der Seite, von vorne, am liebsten hätte sie ihr in den Rachen geschaut, so besonders kam sie ihr vor. »Du bist also ein Sozialschmarotzer«, rückte sie mit dem Grund für ihre Bewunderung heraus.
»Was?«, fragte Helena und konnte mit dem Wort nichts anfangen.
»Ich hab mir eine Asoziale ganz anders vorgestellt. Aber irgendwie komisch siehst du schon aus.«
»Komisch?«, Helena schaute an sich hinunter. Sie trug Birkenstocksandalen, auf die sie mit Filzstift Blumen gemalt hatte, und ein knielanges gebatiktes Leinenkleid mit Spaghettiträgern. Es war schließlich ein heißer Septembertag. Helena fand sich ganz normal, freilich nicht so samtig und aufgemascherlt wie dieses Mädchen.
»Wie Sozialschmarotzer eben ausschauen«, war Antonia stolz auf ihre Kombinationsgabe.
»Wenn schon, dann Sozialschmarotzer
in
!« Helena legte Wert auf gendergerechte Anrede.
»Mein Vater sagt, dass alle, die im Gemeindebau wohnen, asoziale Sozialschmarotzer sind. Du kommst doch aus dem Gemeindebau, oder?«
»Ja, schon«, sagte Helena, die versuchte, diesen ihr fremden Zusammenhang nachzuvollziehen.
»Na bitte, deshalb hast du auch keine Schultüte.« Antonia war sehr zufrieden mit ihrer logischen Herleitung. Helena jedoch kam langsam der Verdacht, dass dieses Samtmädchen nicht ganz richtig im Kopf war – was sie ihr jedoch nicht anlastete, weil jeder Mensch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft war, wie sie aus der Frauengruppe wusste. Deshalb erklärte sie ganz ruhig und umsichtig:
»Ich habe keine Schultüte, weil ich keinen Kommerz brauche, der mich mit weißem Zucker
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