Die wilde Gärtnerin - Roman
desto intensiver der Geruch von Gewürznelken, Honig, Nüssen und einer erdigen Note. Bin wie Hänsel und Gretel mitten im Wald vor dem Lebkuchenhaus. Sie wissen ganz genau, dass so ein Haus nicht von ungefähr dort herumsteht. Aber sie werden magisch davon angezogen, wie ich von Benno. Sauge mich mit jedem Atemzug näher an seinen Hals heran. Hänsel und Gretel brechen Lebkuchenschindeln vom Hexenhaus, sehr wohl ahnend, dass das nicht ungestraft bleiben wird. Ich lecke über Bennos Nacken. Von der Halsschlagader bis schräg hinauf zum Haaransatz, dort wo die Wirbelsäule unter dem Schädelknochen verschwindet. Geruch und Geschmack stimmen nicht überein. Bin enttäuscht. Lecke noch einmal nach, um einen Irrtum auszuschließen. Schade. Er riecht besser, als er schmeckt.
»Helen? Geht’s dir gut?«, fragt Benno und bewegt sich nicht. Ein Katzenbaby, das von seiner Mutter im Maul getragen wird, hat eine ähnliche Körperhaltung wie er.
Taumle nach hinten, von ihm weg. Wische mit der Hand über mein Gesicht. Bemerke, dass meine Finger blutrot vom Kirschsaft sind, der nun auf meinem Antlitz verteilt sein muss. »Ja, Danke der Nachfrage.« Peinlichkeit ist ein seltsames Gefühl, das sich oft bei den unbedeutendsten Kleinigkeiten einstellt, aber bei wirklich ungeheuerlichen Dingen fehlt. »Entschuldige, ich musste was kontrollieren.«
»Ob mein Nacken gründlich ausrasiert ist?«
Das Phänomenale an Scham: Selbst wenn sie nicht vorhanden ist, weiß man, sie sollte es sein. Verlässlich beginnen die Kniescheiben zu vibrieren, als wollten sie sich in Crème brûlée auflösen. Bleibe Benno eine Antwort schuldig, dafür spricht mein Körper klare Fakten: Er hat die Hormonproduktion wider Erwarten nicht eingestellt. »Entschuldige mich«, sage ich und laufe ins Wohnzimmer. Öffne das Fenster, denn Luft ist das Einzige, was gegen Lebkuchengeruch hilft. Gegenüber liegt Bertas Wohnung verlassen vor mir. Ein Anblick, der mich noch vor einigen Wochen traurig gestimmt hat und über den ich jetzt erleichtert bin.
»Wieso denn?«, fragt Bennos Stimme dicht an meinem Ohr.
Schaue weiterhin aus dem Fenster. Unten fährt ein Auto durch die Lerchengasse. Wie jedes Auto bremst es vor der Bodenschwelle, nur um danach unverhältnismäßig viel Gas zu geben. Spüre, wie mich Benno sachte an einer Strähne meines Haarzopfs zieht. Als würde er mich am Ärmel zupfen, damit ich weitergehe und mich nicht länger hier aufhalte. Aber genau dieses Weitergehen will ich nicht. Dieses ewige
Weiter, Besser, Mehr
soll ohne mich stattfinden. Diese ganzen Aufregungen sollen mich in meinem Haus, in meinem Garten vergessen. Die sollen von mir aus draußen durch die Straßen ziehen, aber an mir vorübergehen. Benno streichelt mir über den Kopf. Langsam. Jetzt kommt die Scham. Mit erheblicher Verzögerung, aber umso unleugbarer befällt sie mich. Wie gut, dass mein Gesicht voller Kirschsaft ist, dann fällt eine zusätzliche Rötung nicht auf. »Vielleicht solltest du mir von deinen Märkten erzählen? Dann komme ich sicher weniger in Versuchung, deinen Nacken mit einem Dessert zu verwechseln.« Er schaut mutlos. Wie ein Arzt, dessen Therapie nicht angeschlagen hat.
»Lass uns kochen«, befehle ich.
Nachdem die in Speckmantel eingeschlagenen Lammfilets ihren angebratenen Duft ins Zimmer hängen, der selbst den leisesten Gedanken an Lebkuchen abtötet, stellt sich zwischen Benno und mir Unbeschwertheit ein. »Gehst du rüber und holst Toni? Dann schlüpfe ich in mein neues Kleid, das mit deinem feinen Anzug durchaus konkurrieren kann.«
»Ja, aber ich will mich vorher noch umziehen, damit Toni überrascht ist.«
»Okay, geh ins Bad. Es ist verschließbar, du bist also vor möglichen Übergriffen meinerseits gefeit.«
»Wie beruhigend zu wissen.« Benno verneigt sich vor mir, geht ins Bad und schließt die Tür ab.
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Leo
»Leo«, sagte er, während rundherum Schülerinnen durch das Klassenzimmer wuselten. »Ich heiße Leo, von Leopold, aber Leo gefällt mir besser.«
Helen grinste. »Alle meine Freundinnen nennen sich anders, als sie heißen«, womit sie auch Leo, der sie soeben angesprochen hatte, zu ihrem Freundeskreis rechnete. »Meine Mutter nennt
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