Die wilde Gärtnerin - Roman
sich Leda statt Hilde, meine beste Freundin Toni statt Antonia.«
»Und wie heißt du?«, fragte er.
»Helen statt Helena.«
»Gut, das ist jetzt nicht so viel anders.«
»Aber das fehlende a macht einen enormen Unterschied.« Helen war enttäuscht von Leos unverhohlener Ignoranz. »Eine ganz andere Betonung, zwischen Helen – kurz und bündig – und Helena – total altmodisch. Und überhaupt, kennst du Helena aus der griechischen Mythologie?« Weil Leo zögerlich verneinte, bekam er eine Zusammenfassung des Trojanischen Krieges zu hören, mitsamt Helenas Schlüsselposition darin.
Leo war das einzige Kind des Ärzte-Ehepaares Isabel und Paul Triletzky. Er hatte seit jeher einen Hang zum Kuriosen, was von seiner Sozialisation in Arztpraxen herrühren mochte. Leos Mutter war Dermatologin, sein Vater Endogastrologe. »Der ist für Probleme mit dem Darm zuständig.« Helen kam sofort das Bild eines Mannes in den Sinn, der im weißen Arztkittel mit einem Abflusssauger an den Hinterteilen seiner Patienten herumfuhrwerkte. Leos Lieblingsbeschäftigung war Patienten im Warteraum seiner Eltern zu beobachten und sie beim Abendessen nachzuspielen. Wenn Leo einen Tag den Praxen von Isabel und Paul Triletzky fernblieb, lieferten ihm seine Eltern die versäumten Patientengeschichten nach. Leo hörte den großteils skurrilen Berichten belustigt zu. Als ihm Helen, lediglich um ihren Namen zu erläutern, eine fünfminütige Erklärung vortrug, wurde seine Vorliebe für Außenseiter und Kuriositäten voll angesprochen. Sein Entschluss, an wessen Seite er künftig seine Schultage verbringen wollte, war gefasst.
»Und warum gehst du hier zur Schule?«, fragte er, worauf Helen nur mit einem knappen »Ach« antwortete.
Helen war in der Volksschule Klassenbeste gewesen, ohne sich sonderlich viel anstrengen zu müssen. Sie war lediglich von der konservativ-mütterlichen Ausstrahlung und dem leistungsorientierten Anreizsystem ihrer Lehrerin begeistert, deren Aufgaben wesentlich einfacher zu lösen waren als alles, was ihre Mutter oder das Leben von ihr verlangten. Leda, die dem korrekten Wesen ihrer Tochter als deutliches Anzeichen einer spießbürgerlichen Natur skeptisch gegenüberstand, war dennoch stolz auf Helens sehr gute Noten und wollte sie im Gymnasium sehen. Toni hingegen – äußerst interessiert an ihrer Umwelt und von rascher Auffassungsgabe, aber ungeheuer ignorant bezüglich sich wiederholender Rechenübungen – bevorzugte die Hauptschule. Für Helen bedeutete die Trennung von Toni drohende Vereinsamung. Denn Helens Welt war ausschließlich mit Personen gefüllt, die Zugang zu Ledas Universum hatten. Alle anderen hielten Abstand. Toni befürchtete nichts, weil sie weder Kontaktschwierigkeiten noch Berührungsängste kannte und jede Veränderung einen Ausbruch aus der Strabeck’schen Quarantänestation ihrer Kindheit bedeutete.
»Und du?«, fragte Helen retour.
»Mein Vater ist hier zur Schule gegangen. Meine Mutter auch. Sie haben sich hier kennengelernt.« Leo sagte das wie nebenbei, so als wüsste das ohnehin jeder, weil es bei allen Familienzusammenkünften wiederholt wurde. Doch plötzlich merkte er die tendenziöse Aussage hinter dieser Gründungslegende und wurde rot.
»Wo setzen wir uns hin?«, fragte Helen, womit sie zur unausgesprochenen Selbstverständlichkeit machte, dass Leo fortan bei ihr sein würde. Sie deutete auf die erste Reihe.
»Ist nicht dein Ernst?«, sagte er, der nichts gegen seine Einverleibung hatte, aber keinesfalls als Streber deklariert werden wollte. Schon gar nicht von seinen Freunden, die zahlreich in der Klasse vertreten waren.
»Von dort sehe ich am besten. Außerdem ist man in der ersten Reihe am ungestörtesten. Lehrer passen nur auf die hinteren auf«, gab Helen ihre taktischen Überlegungen preis. Sie nahm ihren Platz gleich vor dem Lehrertisch ein.
Leo zögerte, dann seufzte er und setzte sich neben sie. »Ungewohnt, die Tafel«, meinte er, »so groß.«
»Und dein Papa?«, fragte er auf dem Heimweg. Seitdem Helen ihm ihre Mutter geschildert hatte, waren Leos Pupillen vor Befriedigung erweitert. Schamanin, Frauengruppenleiterin, Buchautorin. Mit noch mehr Besonderheiten konnte eine Person kaum aufwarten, aber vielleicht hatte ja der Ehemann noch etwas zu bieten?
»Tot«, sagte Helen, die nach einigen fehlgeschlagenen Erklärungsversuchen bezüglich des Verbleibs ihres Vaters auf diese prägnante Lüge gekommen war.
»Das tut mir leid … ich … ’tschuldigung«,
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