Die wilde Gärtnerin - Roman
noch nicht viel von ihr gewusst. Ich hab ihm von ihrer Komposttoilette erzählt, vielleicht von ein paar Episoden aus unserer Kindheit, und dass sie zurückgezogen lebt. Mehr nicht.
Er war vorurteilsfrei und hat deshalb seinen naiven Vorschlag machen können. »Hast du es überhaupt schon mal probiert? Woher willst du dann wissen, dass sie dagegen ist? Ich hab sie unlängst in ihrem Garten getroffen. Die hat mir nicht ausgeschaut, als könne man mit ihr nicht reden«, hat er gemeint. Er hat unglaublich sensible Antennen für Menschen. Wie Helen dann tatsächlich ihren Garten freigegeben hat, war ich außer mir vor Glück. Natürlich vorrangig wegen dem Festival, aber auch, weil sich Helen
bewegt
hat. Verstehen Sie? Innerlich muss sich schon damals irgendetwas bei ihr getan haben, sonst hätte sie nie erlaubt, dass zwanzig oder mehr Leute in ihrem Haus und speziell in ihrem geliebten Garten herumlaufen. Ich hab das als durchwegs positiv empfunden. Weil sie endlich ihre Trauer überwunden hat. Sie wird schrittweise ihre Zurückgezogenheit aufgeben, ja, das hab ich mir gedacht, jetzt wird ein neues Leben für sie beginnen. Allerdings so neu, wie es gekommen ist, hab ich es mir nicht vorgestellt.
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1955
Es war warm genug, um mit nackten Beinen hinauszugehen. Was Erna Panticek gelegen kam, denn die sündhaft teuren Strümpfe waren bei jeder Motorradfahrt in permanenter Gefahr. Eigentlich von vornherein dem Untergang geweiht. Erna schlüpfte in ihren mehrschichtigen Unterrock. Gestern war sie noch bis zehn in der Fabrik geblieben und hatte ihr neues Sommerkleid nach einem Schnitt aus der
Burda
fertiggenäht. Eine Vergütung der Vorarbeiterin. Generell mussten alle Näherinnen um fünf Uhr, nach zehn Stunden Arbeit, die Fertigungshalle verlassen. Aber Erna hatte in letzter Zeit bereitwillig Überstunden gemacht. Die Auftragsbücher der Schuhfabrik waren voll, und die Leitung war froh über jede Arbeiterin, die freiwillig noch drei, vier Stunden an ihren Arbeitstag anhing, um in Akkord einige Schuhe zusätzlich herzustellen. Im Gegenzug durften die Nähmaschinen für private Zwecke genützt werden. Das kostete die Firma kaum etwas, die Dankbarkeit der Arbeiterinnen schlug sich jedoch in erstaunlichen Produktionszahlen nieder.
Erna zog das neue Kleid über. Der Stoff aus Crêpe de Chine legte sich um ihren Busen, der von einem fleischfarbenen Büstenhalter in eine Spitzform gedrückt wurde. In der Taille bot das Kleid etwas Platz, genau dort kam ein dünner blauer Lackgürtel darüber, dann schwang es glockig aus und fiel in luftigen Falten über ihren Petticoat.
Barfuß schlüpfte sie in ihre cremefarbenen Stöckelschuhe, die vor drei Monaten noch ihre Brautschuhe gewesen waren. Eine Kollegin hatte sie ihr als Hochzeitsgeschenk genäht. Aus genau demselben Stoff wie ihr Brautkleid. Die Schuhe waren zwar unbequem, würden Erna bestimmt wieder an den Fersen blutig wetzen und auch ihre Zehen wundscheuern, aber sie passten hervorragend zu dem Sommerkleid, dessen Grundton neben einem kornblumenblauen Aufdruck cremefarben war.
Erna setzte sich an den Küchentisch. Ihr Handspiegel lag vor ihr, mit dem Zeigefinger zog sie ihren Augenwinkel leicht nach außen und malte mit Kohlestift einen ebenmäßigen Lidstrich oberhalb ihrer Wimpern. Die bepinselte sie routiniert mit schwarzer Tusche und presste sie einige Sekunden lang mit einer Spange, worauf sie sich nach außen bogen. Erna löste Lockenwickler aus ihren kurzen, brünetten Haaren, toupierte sie etwas auf und zupfte sich einige Strähnchen in die Stirn und seitlich über ihre Ohren. In der Mannequin-Schule hatte man sie auf ihr rundes Gesicht aufmerksam gemacht. Auf ihre
böhmischen Backen
, wie sich die Schulleiterin ausdrückte. Und dass man die etwas kaschieren konnte, indem man Haarsträhnen ins Gesicht zog.
Erna war nicht ganz zufrieden mit ihrem Spiegelbild, aber heute war eben nicht mehr herauszuholen. Für eine Fahrt zum Heurigen würde es reichen. Sie bemalte ihre Lippen, wobei die Oberlippe voller ausgemalt werden musste, weil sie schmäler war als die Unterlippe. Auch so ein Tipp aus der
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