Die wilde Gärtnerin - Roman
du das nicht respektierst, bist du genauso rigide wie das Establishment, gegen das du auftrittst.« – »Lieb von dir, dass du was zur Debatte beitragen willst, aber das ist reine Ausflucht«, würgte Hans ihre Verteidigung ab. Hilde lernte allmählich, dass Hans jedes Wort aus ihrem Mund gegen sie verwenden konnte. Ihre verbale Mitarbeit wurde ihm zunehmend lästig. Sein Abwertungsreigen begann häufig mit: »Na, da dürftest du was missverstanden haben.« Er rückte Hilde in den Dunstkreis geistiger Umnachtung mit: »Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, du würdest Horkheimer verstehen?« Und mit: »Also wenn du das so siehst, frage ich mich, was du noch bei uns suchst«, stellte er sie offiziell ins Out. Hans gab sie kollektiv zum Abschuss beziehungsweise zum Ausschluss frei. Denn obwohl in Ludwigshof alle gleich, solidarisch und basisdemokratisch waren, war Hans der informelle Häuptling. Er machte Meinung und duldete nicht, dass Hilde an seiner Vormachtstellung rüttelte. Bald hatte er keine Lust mehr auf ihre Wortmeldungen. Er lehnte sich bei jedem ihrer Einwürfe zurück, schob seine geballten Fäuste in die Hosentaschen und schaukelte mit seinem Stuhl. Hilde erkannte dank der strengen Schule ihres Vaters Methode und Körpersprache des beleidigten Patriarchen wieder. Hans hatte genauso konkrete Vorstellungen von seiner Kommune, wie Anton von seiner Kleinfamilie. »Same same, but different«, dachte Hilde.
Hilde lag auf dem Rücken im Gras. Sie hielt Helena mit beiden Händen in die Höhe, drehte sie wie ein kleines Lenkrad leicht hin und her. Helena lachte. Da war es wieder, das lustige Gesicht ihrer Mutter. Wie groß sich darin der Mund auftat und welche Laute daraus hervorkamen!
»Hm – what you want – hm – baby I got it – hm«, sang Hilde. Laut. Noch lauter. Aus vollem Hals. »R-e-s-p-e-c-t what you ...« Ein fröhlicher Speichelfaden löste sich aus Helenas zahnlosem Kiefer und tropfte auf Hildes Batikschal. »Just a little bit, just a little bit«.
Aretha Franklins Lied hatte sie erstmals bei ihren Eltern gehört. Sie musste ungefähr acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Nichtsahnend öffnete sie eines Nachmittags die Wohnungstür und hörte den Saxofoneinsatz, den Rhythmus, diese unglaubliche Stimme. Sie ging ins Wohnzimmer und sah ihre Eltern in wilden Verrenkungen vor dem Sofa tanzen. Erhitzt, mit roten Wangen und glücklich rief Erna ihr zu: »Komm, komm her, tanz mit uns!« Anton hielt seine Hand als Mikrofon-Simulation vor den Mund und sang grässlich falsch, inbrünstig und ohne auch nur ein Wort des Texts zu verstehen. Erna schnappte Hilde bei der Hand und wirbelte sie um die eigene Achse. Dann übernahm Anton. Er fasste sie mit beiden Händen und tanzte Boogie-Woogie, den einzigen Tanzschritt, den er in der Tanzschule gelernt hatte. Er ließ Hilde Drehungen vollführen, kreuzte die Arme, zog sie heran, stieß sie von sich, nur um sie gleich wieder zum Boogie-Grundschritt heranzuholen. Hilde wurde schwindlig, aber sie lachte. Dann war das Lied aus. Erna setzte die Nadel des Plattenspielerarms wieder auf die äußerste Rille. Es ging von vorn los. »En no du mi rong«, sang Anton. Hilde stand breitbeinig da, locker in den Knien wackelte sie mit ihren Hüften zum Takt. Die Schallwellen schossen ihr bei den Fußsohlen hinein und strömten durch ihren Körper nach oben. Ihr wurde warm. Sie johlte kraftvoll wie die Soulsängerin, nur in einer anderen Tonlage. Ihre Eltern tanzten miteinander. Hilde hüpfte auf das Sofa und machte es zu ihrer Bühne. Das Lied war aus. Erna setzte die Nadel zurück an den Anfang.
Später, als Hilde im Gemeinschaftsraum des Ludwigshofs Aretha Franklins Album neben dem Plattenspieler fand, verspürte sie sofort Tanzlust. Sie legte die Platte auf. Volle Lautstärke. »What you want – baby I got it – what you need – you know I got it.« Hilde streckte ihren Arm in die Luft, dann zur Seite, stieg im Rhythmus um die Matten herum. Schon nach ein paar Takten kamen Anne und Gertrud ins Zimmer, ließen Arme und Hüften kreisen. Gertrud schüttelte ihren Kopf wie Tina Turner. Auch Günter, der keine Gelegenheit für körperlichen Ausdruck ungenutzt an sich vorüberziehen ließ, wurde von Aretha angelockt. Er betrat den Raum, schmiss sich sofort auf den Boden und rutschte Hilde mit gespreizten Knien entgegen. Vor ihren Füßen legte er sich auf den Rücken und sang aus Leibeskräften. Sie machte ein Faust-Mikrofon, beugte sich nach hinten, schnellte hoch,
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