Die wilde Gärtnerin - Roman
sprang in einen wilden Ausfallschritt über ihn und rundete die Bewegung zu einem Shuffle ab. Gertrud und Anne mimten Backgroundsängerinnen. »Hmm«, machten die beiden. »I’m about to give you«, sang Hilde. »Hmm«, wieder die beiden. »All my money«, setzte auch Günter ein, der sein Becken rhythmisch in die Höhe reckte. »Hmm«, wieder Anne und Gertrud, die sich zu Gitarre und Snare rekelten. »All I’m askin’ is to return, honey«, wiegte sich Hermann zur Tür herein. Saxofoneinsatz von Günter, der rücklings über den Boden robbte. Das Lied endete. Wiederholung. Immer mehr Mitbewohner kamen ins Zimmer. Wiederholung. Immer mehr Backgroundsängerinnen, mehr Arethas, mehr Saxofonspieler. Fünfzehn Menschen schrien sich ihren Soul aus dem Leib. Rund um Hilde tanzten ekstatische Körper, singende Münder, Stimmbänder, die niemals auch nur annähernd an Aretha Franklins Timbre herankamen. Egal. »Dieses Lied ist richtig«, dachte Hilde, während sie »all I want you to do for me« sang. Günter fasste sie an der Hand, packte sie am Fußknöchel und drehte sich mit Hilde im Kreis. Sie flog knapp über dem Boden dahin, wie als Kind. Dieses Lied konnte nicht falsch sein. Zu diesem Lied musste getanzt werden. Bei diesem Lied musste man glücklich sein. »R-e-s-p-e-« – aus. Hans hob die Nadel von der Platte und ließ die Stimmung sinken. Im Raum war atemloses Geschnaufe zu hören, einige grottenfalsche Singstimmen, die noch kurz weitersangen, Gekicher von zwei Mitbewohnern, die sich gegenseitig im Takt ihre Hälse abgeküsst hatten. »Es reicht. Respekt auch für mich. Ich will mir dieses Lied kein zwanzigstes Mal anhören müssen.« Hans führte den Plattenspielerarm zur Seite und fixierte ihn. Die Platte drehte immer noch ihre Runden auf dem Teller. Die Schallwellen waren zu schwarzen Rillen erstarrt. Stecker raus. »Wie kann er nur«, dachte Hilde. Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen, mit denen sie Giftblitze auf Hans geschleudert hätte, wäre er nicht schon wieder zur Tür hinaus gewesen. Das Lied war nicht falsch, wusste Hilde, aber Hans schon.
Helena war mit dem Tragetuch wieder fest an Hilde gebunden.
»Na, dann fahren wir wieder, mein Spätzchen.« Die Laute ihrer Mutter klangen freudig in Helenas Ohr. Außerdem machte sie die Wärme um sie herum schon wieder schläfrig. Helenas Arme waren einfach zu träge, um sie dem seltsam hervorragenden Ding im Gesicht ihrer Mutter entgegenzustrecken, was ihr ursprünglicher Plan gewesen war. Auch zwang das Sonnenlicht sie, ihre Augen zu schließen, nachdem sie es lange mit Blinzeln abzuwehren versucht hatte. Helenas rote, dicke Backen hingen zufrieden neben ihrem offenen Mündchen. Ihr Kopf war zur Seite gekippt. »Genieße deinen Schlaf, meine Schöne«, flüsterte ihr Hilde zu. Sie hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Von der Wiese hinter den Gemeindebauten ging sie über den Hof. »Jetzt fahren wir wieder zu Tante Anne und machen uns einen guten Fencheltee«, weihte Hilde Helena in ihre absehbare Zukunft ein. Aber die verstand sie nicht mehr, so intensiv träumte sie von summenden Bienen, raschelnden Grashalmen und Wind, der über ihre blonden Härchen kitzelte.
Hilde ging den asphaltierten Fußweg zur Straße entlang, wo sich die Station des 29 A befand. Über eine Stunde würde sie von hier in die Stadt brauchen. Was gut war. Sie wollte weitab vom Zentrum leben. Sie würde sich hier in der Peripherie ihr eigenes Zentrum schaffen, dessen war sie sicher.
Hilde hatte Robert, Günter und Oswald zu sich ins Zimmer gebeten. Zu viert saßen sie im Kreis auf Meditationspölstern. Ein Sandelholz-Räucherstäbchen sorgte für muffigen Dunst, obwohl das Fenster offen stand. »Türkischer Apfeltee?«, fragte Hilde in die Runde und schenkte sich eine Tasse ein. »Bitte«, Oswald war der Einzige, der ihr seine Schale reichte. Robert beobachtete sie genau. Günter wollte am liebsten den schönen Frühlingstag draußen verbringen. Vorzugsweise auf Gertrud. »Ich möchte mit euch was besprechen, beziehungsweise euch von meinen Gedanken oder inneren Vorgängen in Kenntnis setzen.« Alle drei nickten. »Ihr habt meinen letzten Krach mit Hans, oder sagen wir mal, unsere doch recht heftige Meinungsverschiedenheit mitbekommen?« Wieder einhelliges Nicken. »Mir wird es hier langsam zu eng. Hans dominiert die Gruppe, ich finde, er zwingt uns seinen Willen auf. Ich bin nicht hierhergekommen, um mich jemandem unterzuordnen. Einfügen gerne, unterordnen nein. Dafür bin
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