Die wilde Geschichte vom Wassertrinker
daß sie ihn
erkennen konnte. Von unten, dachte er, wirkte er wohl wie ein verklemmter
Exhibitionist, der sich nicht richtig traut, stehenzubleiben.
[295] Doch
sie erkannte ihn und lächelte zu ihm hoch. Oder vielleicht lächelte sie auch
aus Gewohnheit, erkannte in ihm nur irgendeinen Mann, der sie hereinbestellte.
Sie streckte die Hand zu ihm hoch und wackelte mit dem Zeigefinger; wieder sah
er ihre blasse, mit Juwelen bestückte Hand. Als sie auf die Tür zuging, klopfte
Trumper heftig gegen die Scheibe: Nein, nein! Ich bitte dich nicht herein. Ich
wollte nur hallo sagen… Doch sie blickte hoch, als halte sie das heftige
Klopfen für Erregung, machte sogar einen kleinen Hüpfer und wandte ihm das Gesicht
zu. Aus dieser Entfernung konnte er keine Spur von Make-up auf ihrem Gesicht
erkennen; sie hätte ein nettes Mädchen sein können, das sich nach einer Party
nach Hause fahren läßt.
Er rannte auf
den Flur, immer noch mit einem Handtuch bekleidet; als er sich breitbeinig an
die Treppe stellte, drückte es der Luftzug beim Zufallen der Foyertür nach
oben. Er erkannte die Hand auf dem Geländer, die zum ersten Stock hochglitt.
Als er zu ihr hinunterrief, hob sie den Kopf, sah ihm direkt unters Handtuch und
kicherte wie ein junges Mädchen.
Er rief:
»Nein!« Doch sie kam weiter hoch, und er rief: »Halt!« Wieder hob sie den Kopf,
und diesmal drückte er das Handtuch mit den Knien zusammen. »Es tut mir leid«,
sagte er, »aber ich wollte nicht, daß Sie heraufkommen.« Sie zog einen
Mundwinkel nach unten, woraufhin sich deutlich Krähenfüße um ihre Augen
bildeten; jetzt sah sie aus wie Mitte Dreißig, vielleicht sogar Mitte Vierzig.
Doch sie kam weiter nach oben.
Trumper stand
da wie ein Ölgötze, und sie blieb eine Stufe unter ihm stehen, atmete in
schnellen, parfümierten Stößen, die Kälte von draußen entströmte noch ihren
Kleidern, ihr Gesicht hatte eine hübsche, rötliche Farbe. »Ich weiß«, sagte
sie. »Sie wollten mich nur nach der Zeit fragen?«
»Nein«,
erwiderte er, »ich hab Sie erkannt. Ich hab nur an das Fenster geklopft, um
hallo zu sagen.«
»Hallo«, sagte
sie. Jetzt übertrieb sie das Atemholen, lehnte sich [296] ans Geländer, wurde vor seinen Augen älter, nur damit er sich jetzt besonders schäbig fühlte.
»Es tut mir
leid«, sagte Bogus. »Ich kann Ihnen nichts geben.«
Sie starrte auf
sein Handtuch und fuhr sich über die Lippen. Sie war eigentlich recht hübsch.
Das sind sie oft im Ersten Bezirk. Nicht so hurig; eher elegant als burlesk.
Sie trug einen schönen Mantel; ihre Frisur war einfach, die Haare sauber; sie
hatte einen feinen Knochenbau.
»Ich würd schon
ganz gern, wirklich«, meinte Bogus.
Wieder starrte
sie auf sein Handtuch und sagte– zu süßlich, jetzt spielte sie die Mama: »Zieh
dir was an. Willst du dich vielleicht erkälten?«
Dann ging sie.
Sein Blick folgte ihrer hübschen Hand das Geländer hinab, dann ging er zurück
zu seiner Schreibmaschine; er wollte gerade die Tasten zu lyrischer Arbeit
inspirieren, wollte ein offenes Bekenntnis des Selbstmitleids niederschreiben,
als er vom nächsten Bidet unter sich gestört wurde; und von Frau Taschy, die
draußen an seiner Tür kratzte. »Bitte tippen Sie jetzt nicht mehr«, sagte sie.
»Die Leute wollen schlafen.«
Die Leute
wollen bumsen, meinte sie wohl eher. Sein Getippe störte ihren Rhythmus oder
rüttelte ihr Gewissen auf. Doch er berührte diese seltsamen deutschen Tasten
nicht mehr; sie konnten ihre lyrischen Werke ja über Nacht vorbereiten. Er
schaute hinab auf die Spiegelgasse und sah die Hure, die er zweimal irregeführt
hatte, Arm in Arm mit einer anderen Prostituierten auf eine Kneipe zugehen;
Zeit für eine Kaffeepause. Er überlegte sich, wie sie die Jahre wohl empfanden,
zuerst waren sie jung und hübsch und gingen die Kärntner Straße und den Graben
entlang, dann weiter hinaus, Bezirk um Bezirk, Jahr um Jahr, am Prater vorbei,
an der schmutzigen Donau entlang, mußten für Fabrikarbeiter und Studenten der
Technikerschule zum halben Preis, den sie vorher genommen hatten, herhalten.
Doch es war immerhin genauso fair wie in der wirklichen Welt, vielleicht sogar [297] fairer, denn der Bezirk, in
dem man schließlich landete, war nicht immer ein sicherer, vorhersehbarer
Abstieg, und im wirklichen Leben konnte man sich nicht immer einen glänzenden
Start aussuchen.
Bogus
beobachtete durchs Fenster die beringte Frau mit ihrem Muff – ihre sorgsam
manikürte Hand belebte die
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