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Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Notre Dame, und versuche, mich aus dem
Staub zu machen. Diesmal ist [96]  das
Durcheinander noch größer. Die zu spät gekommenen Massen, die den Anpfiff
verpaßt haben, fluten durch die Eingänge herein. Mit einem Bodycheck gegen
einen schmächtigen Mann, der in Decken eingehüllt ist, entrinne ich der Panik
im Inneren des Stadions, gelange zum Presseeingang, so frei und ungehindert wie
die Nr. 25 von Notre Dame, der nun ganz allein durchs Mittelfeld stürmt – nur
ein Verteidiger von Iowa, weit abgeschlagen, rennt hinter ihm her –, und nun
hat er nur noch den Strafraum von Iowa vor sich. Das Fangebrüll für die
Heimmannschaft erstirbt zu einem Todesröcheln, und das Gekreische der
fanatischen Katholiken erhebt sich wie eine Woge. Die mit Tröten bewaffneten
irischen Fans schicken einen grünen Tusch gen Himmel.
    Ich laufe einfach
nur weg, auf die andere Kurve zu, weg von da, wo Nr. 25 die ersten Punkte
macht, weg von da, wo ich den geköpften Stadionpolizisten vermute und wo ein
Heer von Studenten aus der Trainingsgruppe für die Offizierslaufbahn antritt,
um mich aufzustöbern. Ich überquere ohne Schwierigkeiten den auf dem
Stadiongelände liegenden Fußballplatz; allerdings stoße ich mit den Knien an
die Stoßstangen der hier geparkten Autos und versuche, dem Blick des Offiziers
in spe, der den Parkplatz bewacht, zu entgehen; der hat seine tiefliegenden,
mißtrauischen Augen, die unter dem weißen MP -Helm kaum zu sehen sind, nach unten gerichtet. Warum tragen
sie » MP «-Helme, wenn sie nur Autos
bewachen?
    Dann durchquere
ich im Zickzack den menschenleeren nördlichen Teil des Unigeländes, das sich
bis zum Iowa River hinzieht, an den erschreckend ruhigen Gebäuden der Uniklinik
vorbei. Vor dem Eingang der Kinderklinik hocken mehrere Bauern auf den
Kofferräumen und Kotflügeln ihrer Lieferwagen und warten auf ihre Frauen und
Kinder, die die medizinischen Dienste der Universität in Anspruch nehmen: Hier
werden Schweinebisse und Fehlgeburten und zahllose seltsame, von Tieren [97]  übertragene Krankheiten
behandelt, die sich die Bauern und ihre Familie irgendwoher holen. Einen
Augenblick lang renne ich blind weiter, zu Tode erschrocken von der
furchtbaren, unsinnigen Vision, Colm sei von einer dieser wahnsinnigen Säue,
die ihre eigenen Ferkel verschlingen, übel zugerichtet worden.
    Dann am
viereckigen Gebäude des Studentenwohnheims vorbei. Ich höre nur einen
Plattenspieler, der trotzig ein Cembalostück von Scarlatti abspielt – spröder
und religiöser als zerschlagenes Buntglas. Offenbar kein Footballfan. Niemand
sieht mich, wie ich stehenbleibe, den Klängen lausche und meinen Weg fortsetze,
als ich plötzlich Schritte hinter mir höre.
    Es sind
schlurfende, müde Schritte. Vielleicht der Stadionpolizist, dessen Kopf nur
noch an einer Sehne hängt. Aber selbst er kann nicht so erledigt sein, wie ich
es bin. Ich bleibe stehen. Ich warte darauf, daß mich die Schritte einholen,
und als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre, knie ich nieder; ich berühre
mit dem Kopf den von der Sonne erwärmten Zement im Innenhof des Wohnheims und
spüre, wie mir das Stück von Scarlatti den Rücken hinauf und hinunter läuft –
genau wie die Hand jetzt. Ich sehe ein dünnes, zerbrechliches Paar Beine. Als
die Beine bemerken, daß ich sie anschaue, rücken sie zusammen; zwei Knie kommen
auf mich zu, wie die hellen Backen eines zarten Kinderpopos. Eine schwache Hand
versucht, meinen Kopf hochzuheben; ich helfe etwas nach. Ich lege mein vom Kies
durchlöchertes Kinn an den Saum ihres Kleides.
    Und Lydia
Kindle sagt mit dünner, trauriger Stimme: »Oh, Mr. Trumper.« Und, jetzt etwas
aufmunternder: »Wie geht’s
Ihnen jetzt? Hoffentlich gut…«
    Aber mit ihrem
Sängerdeutsch komme ich kaum mit. Ich flüchte mich ins Altniedernordische. »Klegwoerum«, sage ich mit erstickter Stimme. Sie fährt mit ihrer kalten,
spröden Hand unter den Kragen meines Parkas, den Nacken hinab, und drückt mich,
so fest sie kann.
    [98]  Dann
höre ich, wie in dem hohen, fast leeren Wohnheim die Cembalomusik abgestellt
wird. Der letzte Akkord hängt so lange über mir, daß ich schon damit rechne, er
werde gleich auf uns beide herabstürzen. Ich helfe mir und Lydia wieder auf die
Beine und drücke sie eng an mich; sie ist so dünn, daß ich ihren Herzschlag
hinten an ihrer Wirbelsäule spüren kann. Sie wendet mir ihr junges,
tränennasses Gesicht zu: welch feine, zarte Knochen! Mit einem so kantigen
Gesicht hätte ich Angst,

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