Die wilde Geschichte vom Wassertrinker
Edmund?«
»Hallo!« brüllt
mein Vater ins Telefon.
Und meine
Mutter raunt: »Es wird doch wohl nicht Mr. Bingham sein? Oh, Edmund, du weißt
doch, sein Herz…«
Biggie
balanciert noch immer auf einem Bein und starrt mich finster an, ist entsetzt
von der Feigheit, die sie in meinem Gesicht sieht; wütend grunzt sie mich an.
[220] »Mr.
Bingham?« fragt mein Vater. »Bekommen Sie wieder keine Luft?«
Biggie stampft
mit dem Fuß auf und stößt einen Kleintierschrei aus.
Mein Vater gibt
Ratschläge: »Versuchen Sie, nicht zu tief einzuatmen, Mr. Bingham. Bleiben Sie
am Telefon, ich komm sofort zu Ihnen…«
Meine Mutter
trippelt im Hintergrund herum und ruft ihm zu: »Ich seh zu, daß ein
Krankenwagen mit Sauerstoff hinfährt, Edmund…«
»Mr. Bingham!«
schreit mein Vater ins Telefon, als Biggie gegen den Herd tritt und ein Knurren
ihrem halbgeöffneten Mund entweicht. »Ziehen Sie die Knie hoch an die Brust,
Mr. Bingham! Versuchen Sie nicht zu sprechen!«
Ich lege auf.
Gekrümmt, als
würde sie von Lachen geschüttelt, stürmt Biggie an mir vorbei, durch die Diele
ins Schlafzimmer und schlägt die Tür hinter sich zu. Ihr pfeifendes Atemholen,
die verrückten Geräusche, die sich ihren Lippen entringen, klingen, als müsse
sie ersticken, so ähnlich wie der arme Mr. Bingham mit seinen echten
Herzbeschwerden.
Vom Nachtwächter unbemerkt, verbrachte ich die Nacht in der
Doktorandennische der Universitätsbibliothek von Iowa, in einer der Kabinen im
vierten Stock, wo normalerweise schwitzende Wissenschaftler sitzen, jeder mit
einer Colaflasche vor sich. In jeder Flasche ist noch eine Pfütze Cola, dick wie
Honig, und darin schwimmen mehrere Zigarettenkippen. Wenn sie hineingeworfen
werden, hört man das Zischen noch ein paar Kabäuschen weiter.
Einmal schob
sich Harry Petz, ein Doktorand aus Brooklyn, der kurz vor der Beendigung seiner
Dissertation stand und Dokumente auf serbokroatisch las, mit seinem Bürostuhl
nach hinten [221] und schoß
rückwärts aus seiner Kabine; er beschleunigte seine Fahrt durch den Gang mit
den Füßen, flitzte an uns vorbei, an der ganzen Reihe von Kabinen. Am Ende des
Ganges knallte er gegen das Isolierfenster des vierten Stocks, zerbrach dabei
die Scheibe und seinen Kopf, stürzte jedoch nicht die vier Stockwerke hinab auf
den Parkplatz, wo er sich vor seinem inneren Auge vielleicht schon auf der
Motorhaube eines Autos hatte aufschlagen sehen.
Ich würde so
etwas nie tun, Biggie.
Eine Szene in Akthelt und Gunnel greift mir besonders ans Herz. Akthelt rüstet sich für einen
Kampf gegen die kriegslustigen Grethen. Er legt seine Schienbein- und
Schulterschützer an, den Nierenschutz und seinen Helm, schützt damit wie immer
vor einem Kampf seine lebenswichtigen Organe, während die arme Gunnel ihn
anfleht, sie nicht zu verlassen; sie zieht sich wie immer, wenn er in den Krieg
ziehen will, die Kleider aus, löst die geflochtenen Zöpfe und die Fußspangen,
entblößt die Arme, schnürt sich das Korsett auf, während Akthelt sich das
schwere Panzerhemd anzieht, den mit Dornen besetzten Steißbeinschutz anlegt
usw. Akthelt versucht, Gunnel das Ziel des Krieges (det henski af krig) zu erklären, doch sie will ihm
nicht zuhören. Der alte Thak, Akthelts Vater, stürmt plötzlich herein. Auch er
hat sich für den Krieg gerüstet und bewaffnet, aber der Reißverschluß an seiner
Brust oder irgend so was klemmt, und er braucht Hilfe. Natürlich ist es ihm
peinlich, die schöne junge Frau seines Sohnes so verzweifelt und halb nackt zu
sehen, doch er erinnert sich an seine eigene Jugend und erkennt, worüber
Akthelt und Gunnel sich streiten. Deshalb versucht der alte Thak, es beiden
recht zu machen. Der süßen Gunnel greift er mit seiner schwieligen Hand an den
Hintern und sagt gleichzeitig weise zu Akthelt: »Det henskit af krig er tu overleve« (»Das Ziel des Krieges ist es,
ihn zu überleben«).
Das, so wurde
mir schlagartig klar, schien auch das Ziel meines [222] Promotionsstudiums zu sein – und vielleicht
auch meiner Ehe. In jener Zeit konnte ich derartige Erkenntnisse nur schwer
verdauen.
Auf dem Weg über den Bibliotheksparkplatz, auf dem Harry Petz
zu landen versucht hatte, erspähe ich die kleine Lydia Kindle, die neben einem
meergrünen Ungetüm von Edsel auf mich lauert. Sie trägt ein enganliegendes
birnenfarbenes Kostüm mit kurzem Rock, das sie sehr erwachsen aussehen läßt.
»Hallo! Das da
ist mein Edsel!« sagt sie. Und ich denke: Das ist wirklich des
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