Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
beigebracht, nicht mit Fremden zu reden. Das
junge Fräulein in Leder blickte diesen Kinderschreck eisig an.
    »Deine Mutter
ist gleich wieder zurück«, sagte Tulpen zu dem kleinen Mädchen.
    »Sie hat Blut
in ihrem Pipi«, informierte uns das Kind. Die Sprechstundenhilfe schwang auf
ihrem Stuhl zu uns herum und schaute mich mit einem Blick an, der besagte, mein
Hirn müsse wohl auch total verklebt sein.
    »Oh, deiner
Mutter wird’s bestimmt bald wieder gutgehen«, sagte ich zu dem Kind. Es nickte
gelangweilt.
    Das umwerfende
Lederfräulein warf mir einen Blick zu, der mir ganz deutlich mitteilte, daß sie
kein Blut im Pipi habe, keine blöden Fragen also. Tulpen unterdrückte ein
Kichern und kniff mich in den Schenkel; ich untersuchte mit der Zunge meinen
Gaumen.
    Dann gab der
alte Mann, der bis dahin so still dagesessen hatte, einen seltsamen Laut von
sich, es klang wie ein mit Mühe unterdrückter Rülpser oder ein verhaltener Furz
oder wie eine quietschende Drehung des gesamten Rückgrats, und als er
aufzustehen versuchte, sahen wir, wie sich ein Fleck, der die Farbe von
verbrannter Butter aufwies, auf seinem Hemd ausbreitete und seine Hose an den
schmächtigen Schenkeln festkleben ließ. Er taumelte seitwärts, und ich
erwischte ihn gerade noch, bevor er hinschlug. Er war federleicht, und es war
ganz einfach, ihn aufrecht zu halten, doch ein scheußlicher Geruch hing an ihm,
und er hielt sich den Bauch; er hatte irgend etwas unter seinem Hemd. Er war
dankbar, doch das Ganze war ihm fürchterlich peinlich, und er sagte nur:
»Bitte, zur Toilette…«, und zeigte mit seiner knochigen Hand hinüber auf
Vignerons Sprechzimmer. Hinter dem Fleck, den sein Hemd wie ein Stück
Löschpapier aufsog, konnte ich den Umriß eines seltsamen kleinen Beutels und
einen Schlauch erkennen.
    »Das verdammte
Ding läuft ständig über«, sagte er, als ich ihn so [213]  schnell wie möglich zur Sprechstundenhilfe
bugsierte, die sich gerade von ihrem Drehstuhl erhob.
    »Oh, Mr.
Kroddy«, sagte sie tadelnd und nahm ihn aus meinen Armen wie eine innerlich
hohle Puppe. Sie schleppte ihn durch den langen Flur, winkte mir verärgert zu,
wieder zurück ins Wartezimmer zu gehen, und maßregelte ihn weiter: »Sie müssen
ihn einfach öfter ausleeren, Mr. Kroddy. Diese Unfälle müssen ja nun wirklich
nicht sein…«
    Doch er
beschwerte sich weiter: »Das verdammte Ding, dieses Scheißding! Nirgendwo kann
ich hingehen, die Leute regen sich immer gleich auf. Im Pissoir wird man immer
so komisch angeguckt…«
    »Können Sie
sich das Hemd allein aufknöpfen, Mr. Kroddy?«
    »Dieses
verdammte Scheißding!«
    »So was
bräuchte Ihnen gar nicht zu passieren, Mr. Kroddy…«
    Im Wartezimmer
schaute das Kind wieder ängstlich drein, und das hochnäsige Lederfräulein mit
dem knackigen Hintern starrte unverwandt auf ihre Zeitung, unnahbar und mit wer
weiß was für einem furchtbaren Geheimnis zwischen den Beinen. Niemand würde es
erfahren. Ich haßte sie.
    Ich flüsterte
Tulpen zu: »Der arme Alte bestand nur aus Schläuchen. Er mußte sein
Wasser in den kleinen Sack ablassen.« Das verdammte Lederfräulein sah kühl zu
mir auf, senkte den Blick dann wieder hinab zu ihrer Zeitung, und wir alle
saßen da und lauschten dem Geräusch, mit dem die Sprechstundenhilfe den armen
Mr. Kroddy fortzuspülen schien.
    Ich sah das
wachsame Lederfräulein direkt an und fragte sie: »Haben Sie Tripper?«
    Sie blickte
nicht auf; sie erstarrte förmlich. Doch Tulpen stieß mir unsanft mit dem
Ellbogen in die Rippen, und das Kind sah dankbar auf. »Was?« fragte es.
    Da sah mir die
junge Frau gerade in die Augen. Doch ihr grimmiger Gesichtsausdruck hielt nicht
lange an; zum ersten Mal trat [214]  etwas
Menschliches in ihr Gesicht – ihre Lippen kräuselten sich, sie versuchte, die
Lippen mit den Zähnen festzuklemmen, ihre Augen schwammen plötzlich – und ich
kam mir auf einmal grausam und schäbig vor.
    »Du
Dreckschwein, Trumper«, flüsterte Tulpen, und ich ging hinüber zu dem Mädchen,
das den Kopf auf die Knie gelegt hatte, auf dem Stuhl hin und her schaukelte
und leise weinte.
    »Es tut mir
leid«, sagte ich, »ich weiß wirklich nicht, warum ich das gesagt habe… ich
meine, Sie wirkten irgendwie gefühllos…«
    »Hören Sie ihm
gar nicht zu«, sagte Tulpen zu dem Mädchen, »er ist verrückt.«
    »Ich kann es
einfach nicht glauben, daß ich Tripper hab«, schluchzte das Mädchen, »ich mach
es doch gar nicht so oft, und ich bin doch keine Schlampe…«

Weitere Kostenlose Bücher