Die wilde Jagd - Roman
machen.
Teia betrachtete ihr Spiegelbild in der Schüssel mit Wasser, die am Eingang ihres Unterschlupfs stand. Sie wickelte sich den Verband von der Stirn und hielt den Atem an, als sie sah, was darunter lag.
Dicker schwarzer Schorf verlief von ihrer rechten Augenbraue hoch bis zum Haaransatz; die Verletzung war so lang, wie ihre Hand breit war. Am Rande war die Haut feuerrot und mit rotem Blut verkrustet. Die kalte Luft stach ihr in das frisch verheilte Fleisch, doch nach fast sechs Tagen war es Zeit, dass die Wunde atmete; wenn Teia sie zu lange verbunden hielt, verlangsamte das den Heilungsprozess.
Vorsichtig betastete sie den Schorf. Er fühlte sich hart wie Schildleder an oder wie die Schuppen einer gewaltigen Schlange. Darunter würde die Narbe sein – eine schlimme, aber sie konnte von Glück reden, dass sie so davongekommen war. Wenn sie einige Zoll weiter rechts auf den Stein gefallen wäre, hätte er ihr vermutlich das Hirn aus dem Schädel getrieben.
Mit dem alten Verband rieb sie sich das getrocknete Blut so gut wie möglich ab. Viel davon befand sich noch auf ihrer Kopfhaut und hatte die Haare zu stacheligen Büscheln verklebt, aber dort war die Wunde am tiefsten und noch so empfindlich, dass sie nicht daran reiben durfte. Außerdem sehnte sich ihre Kopfhaut – nein, ihr ganzer Körper – nach einem Bad, und sie machte alles nur noch schlimmer, wenn sie andauernd an ihrer Verletzung herumfingerte.
Sie verlor die Geduld, warf den Verband beiseite und beugte sich über die Schüssel, damit sie sich das Gesicht waschen konnte. Als sie danach ein Handtuch suchte, um sich abzutrocknen, bemerkte sie ihr Spiegelbild, das im Wasser zitterte. Grau umgab der Himmel ihr Gesicht. Dieses Bild hatte sie schon öfter gesehen. Sogar die müden Schatten um die Augen wirkten vertraut. Es fehlte nur das nasse Haar, und die Vision, die sie seit zwei Jahren heimsuchte, wäre vollkommen gewesen.
Sie trocknete sich das Gesicht ab und sah zu, wie das Bild ruhiger wurde. Nein, es war nicht ganz dasselbe, kam der Vision aber so nahe, dass es sie zum Nachdenken brachte. Seit Ytha sie zu Beginn des Winters die Blutvision hatte erleben lassen, hatte sie nicht mehr die Möglichkeit gehabt, das Kommende in einer Wasseroberfläche zu sehen. Ihre Zukunft könnte sich seitdem verändert haben. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, es herauszufinden.
Sie legte die Hände auf den Rand der Schüssel und warf einen Blick auf das Lager. Jeder, den sie sehen konnte, schien sich zu beeilen, weil alle lange geschlafen hatten. Die Unterkünfte wurden abgebaut, die Ausrüstung verpackt. Weiße Atemwölkchen stiegen vor den schneebedeckten Kiefern auf, und jedes Geräusch klang zu laut in der klaren Morgenluft. Niemand sah zu ihr herüber. Eigentlich sollte es ihr egal sein, denn sie war weit genug weg von Ytha, aber alte Angewohnheiten waren genauso schwer loszuwerden wie Flöhe.
Sie zog die Schüssel zwischen die Knie – ihr Rücken schmerzte noch von dem Ritt – und wartete darauf, dass sich der Wasserspiegel wieder glättete. Dann griff sie nach ihrer Magie. Gierig sprang die Macht in ihr auf wie ein Hündchen, dessen Name gerufen wird. Einige blaue Funken krochen über ihre Finger.
Zeig es mir .
Ihr Spiegelbild veränderte sich; der Schorf schmolz dahin, und eine Locke weißen Haares lag über dem gleichen matten, erloschenen Gesicht, das sie schon so oft gesehen hatte. Es war also eine wahre Vision gewesen. Sie spürte kalte Beklemmung in der Magengrube. Entsprach auch der Rest der Wahrheit?
Zeig mir Drwyn .
Weiß erfüllte die Schüssel. Ein Weiß, das wirbelte und umhertrieb, als würde es von einer launischen Brise getragen. Zuerst konnte sie gar nichts sehen, doch dann sank ihr Blick wie ein Vogel durch die Schleier aus Schnee hinunter zu einem Lager auf der sanft gewellten Ebene. Mutlose Pferde drängten sich auf einer Koppel zusammen und standen mit dem Rücken zum Wind; Zeltgruppen waren auf der einen Seite mit Schnee verkrustet, der sich immer höher gegen ihre Wände legte. Hier und dort glommen winzige Feuer im Zwielicht.
Der Clan war schon auf der Reise und lagerte irgendwo nördlich der Winterhöhlen, vermutete sie, doch wegen des Schneetreibens war es ihr nicht möglich, den genauen Ort zu bestimmen. Es war früh für eine Reise zur Versammlung vor dem Auseinandergehen. Offenbar wurde Drwyn – oder eher Ytha – allmählich ungeduldig.
Ihr Blick sank nach unten, und ihr wurde schwindlig. Er flog auf das Lager
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